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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Berührungslose Gestensteuerung zur Erfassung von Perioperativen Prozesszeiten- Eine Machbarkeitsstudie am Anästhesiesimulator

Meeting Abstract

  • Janko Ahlbrandt - Universitätsmedizin Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
  • Daniel Künkel - Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland
  • Birgit Bomsdorf - Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland
  • Markus A. Weigand - Universitätsmedizin Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
  • Rainer Röhrig - Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 243

doi: 10.3205/15gmds089, urn:nbn:de:0183-15gmds0899

Published: August 27, 2015

© 2015 Ahlbrandt et al.
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Text

Einleitung: Die Dokumentation von perioperativen Prozesszeiten und den daraus abgeleiteten Kennzahlen stellt ein wesentliches Merkmal der ärztlichen Dokumentation in der Anästhesie dar und bildet die Grundlage nahezu aller Entscheidungen von OP-Steuerung und OP-Management [1]. Dabei wird die Erfassung der Anästhesiedokumentation häufig von Anästhesie-Informations-Management-Systemen (AIMS) unterstützt [2], [3]. Die Präzision bei der Erfassung von Prozesszeiten hängt ganz wesentlich von der Latenz der Eingabe ab [4]. Dabei kommt es insbesondere in der für die OP-Steuerung, bzw. die Berechnung der dafür notwendigen Kennzahlen, interessanten Phase der Anästhesie-Einleitung zu einer verzögerten Dokumentation. In dieser Phase ist sowohl die Aufmerksamkeit des Anästhesisten vollständig auf die Patientenbehandlung fokussiert, als auch durch den Standort des Anästhesisten und potentiell kontaminierten Handschuhen eine Tastatur oder Mausbedienung erschwert oder verhindert [1], [4], [5]. Hier bietet sich eine Dokumentation über berührungslose Gesten an. Während die berührungslose Steuerung von Informationstechnologie mittels Gesten vor allem im Bereich von Spielekonsolen wie z.B. xBox (Microsoft) oder PlayStation (Sony) weit verbreitet ist, gibt es bisher wenige Studien über die Einsatzmöglichkeiten der Gestensteuerung zur Steuerung von Technik im Bereich der operativen Medizin [6], [7], [8], [9] und keine den Autoren bekannte im Bereich der Anästhesie.

Das Ziel dieser Arbeit war zu evaluieren, ob und wie die Dokumentation über eine Gestensteuerung in den Prozess der Anästhesieeinleitung integriert werden kann.

Material und Methoden: Nach Erteilung des Ethikvotums (Nr. 86/14 Ethikkommission des Fachbereichs Humanmedizin der JLU Gießen) wurde das Forschungsprojekt als mehrstufige Wizard of Oz Studie an einem Anästhesiesimulator an der Klinik für Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen durchgeführt.

In der Phase der Gestenermittlung wurden 12 Probanden während einer Anästhesieeinleitung am Simulator (Ausgestattet mit Phantom, Klinik üblichen Anästhesiearbeitsplatz mit Vitaldatenmonitor, Narkosebeatmungsgerät, sowie alle erforderlichen Materialien und Medikamente, die Anästhesiepflegekraft wurde von dem Forschungsteam gestellt) an drei Zeitpunkten (Beginn Anästhesie (A6 nach [1], Erfolgreiche Intubation, Freigabe Anästhesie (A7 nach [1])) gebeten eine Handgeste auszuführen. Die Definitionen der Prozesszeiten waren den Probanden durch die Dokumentation mit dem Anästhesie-Informations-Management-System NarkoData (Fa. Imeso, Gießen) geläufig [10]. Die von den Probanden vorgeführten Gesten wurden von zwei Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst. Dabei wurden Probanden gebeten, ihre Assoziation zu der Geste zu nennen. Auf der Basis dieser Aufnahmen erfolgte eine Normalisierung und Kategorisierung der Gesten. Auf der Basis dieser Ergebnisse wurden je zwei Gesten für jeden der drei Zeitpunkte ausgewählt, jeweils eine statische und eine dynamische Geste.

In der Phase der Gestenevaluierung absolvierte eine zweite, von der ersten Gruppe diskunkten Stichprobe von Probanden zwei Durchgänge am Simulator: Randomisiert wurde vor dem ersten Durchgang entweder das statische oder dynamische Gestenset demonstriert, im zweiten Durchgang das jeweils andere Set. Die Probanden wurden gebeten, die jeweiligen Gesten zu den entsprechenden Zeitpunkten auszuführen. Dies wurde mit einer Kamera aufgezeichnet.

Ergebnisse: Von 12 Probanden wurden insgesamt 37 verschiedene Gesten (1 Proband führte 2 unterschiedliche Gesten aus) vorgeführt. 24 davon unterschieden sich signifikant voneinander – 5 für Beginn Anästhesie (A6), 13 für Intubation und 8 für Freigabe Anästhesie (A7). Von den 37 wurden 23 als statische und 14 als dynamische Gesten klassifiziert. Es wurden nach Häufigkeit der Geste, Komplexität (Erlenbarkeit) und der technischen Umsetzbarkeit in einem Prototypen die folgenden Gesten ausgewählt: Im statischen Set bedeutet eine Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger „Beginn Anästhesie“ (Sinnbrücke "Achtung", ein stilisierter Tubus (Beatmungsschlauch) mit Hilfe des kleinen Fingers „Intubation“ und der sprichwörtliche Daumen hoch „Freigabe Anästhesie“ (Sinnbildlich alles gut, alles fertig). Die dynamischen Gesten sind komplexer: „Beginn Anästhesie“ wird hier als das angetäuschte Drücken eines Abzugs einer Waffe dargestellt ("Startschuss"). Die Geste für „Intubation“ ist der Bewegung beim eigentlichen Einlegen des Beatmungsschlauches nachempfunden, wobei die Fingerstellung der statischen Geste entspricht. Die Geste für „Freigabe Anästhesie“ ist eine flache Hand (mit Handfläche nach unten), die langsam vom Körper weggeführt wird ("Reinfahren in den OP"). Als geeigneten Raum für die Gestenausführung wurde der Raum hinter dem Kopf, bzw. über dem Kopf- und Brustkorbbereich des Patienten gewählt. Die Gesten konnten alle nach einer einmaligen Demonstration und einem einmaligen Üben von den Probanden während der Simulation unmittelbar vor (Beginn Anästhesie (A6)) oder nach Abschluss der Maßnahmen (Intubation, Freigabe Anästhesie (A7)) ausgeführt werden, ohne den Blick vom Patienten abzuwenden.

Diskussion: Die Studie zeigt, dass es möglich ist, Gesten in einem simulierten, realitätsnahen Szenario von Experten aus der Domäne vorschlagen zu lassen und daraus ein Gesten-Set zu definieren. Bei der Gestenauswahl wurden auch die Assoziationen der Probanden herangezogen um das Potential zum Anknüpfen an mentale Modelle zu nutzen.

Dadurch das Vorgehen wird vermutlich die Akzeptanz der Gesten erhöht, weil die Assoziationen von Berufsgenossen mit in die Entwicklung einfließen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass besser passende Gesten auf diese Art nicht in Betracht gezogen werden, weil sie keinem der Probanden ad hoc einfallen. Um die Eindeutigkeit der Assoziation von Geste zu Bedeutung zu erhöhen, hätte hier auch ein middle-out Ansatz verwendet werden können, bei dem eine Gruppe Gesten vorschlägt und eine andere die Gesten einer Bedeutung zuordnet. Dies wurde aufgrund der kleinen Stichprobe nicht durchgeführt. Die Einteilung der Gesten in statische und dynamische Gesten erscheint aufgrund der Ergebnisse sinnvoll. Würden beide Sets in einem Erkennungssystem implementiert, könnte der Benutzer die Gesten seiner Präferenz nach oder an die Situation angepasst durchführen. Dadurch, dass die Probanden aus der ersten und der zweiten Phase Schnittmengenfrei waren konnten Einflüsse durch Lerneffekte ausgeschlossen werden.

Aus Sicht der Autoren ist es wichtig, dass solche Gestensets von Hochschulen und Medizinischen Fachgesellschaften in enger Zusammenarbeit der klinischen Fächer (in diesem Fall Anästhesie) und methodischen Fächern (Medizininformatik, Medizintechnik) entwickelt werden um diese als frei verfügbaren Standard zu etablieren und Probleme und Risiken durch Hersteller-abhängige Gestensets zu vermeiden.

Die Auswirkungen auf die Dokumentationsqualität sollten mit quantitativen Methoden sowohl unter kontrollierten Bedingungen (Simulation, Wizard of Oz) (Validierung), als auch in einem langfristig angelegten Feldversuch (Evaluation) untersucht werden.

Danksagung: Die Autoren bedanken sich bei den Änästhesistinnen und Anästhesisten, die an der Studie teilgenommen haben und bei Herrn Dr. Alin Schaumberg und Frau Julia Westhoff vom Gießener Simulationszentrum für Anästhesie und Notfallmedizin.

Erklärung: Der Inhalt dieses Manuskript wurde auch als Fullpaper auf der 9th Multi Conference on Computer Science and Information Systems 2015 (MCCSIS) akzeptiert.


Literatur

1.
Bauer M, Diemer M, Ansorg J, Schleppers A, Bauer K, Bomplitz M, Tsekos E, Hanß R, Schuster M. Glossar perioperativer Prozesszeiten und Kennzahlen - Gemeinsame Empfehlung der Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten, des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen und des Verbandes für OP-Management. Anästh Intensivmed. 2008; 49: S93-S105.
2.
Branitzki P, Junger A, Bleicher W, Pollwein B, Prause A, Röhrig R, Specht M. Spezielle Empfehlungen und Anforderungen zur Implementierung eines Anästhesie-Informations-Management-Systems. (Arbeitsgruppe EDV des Forums Qualitätsmanagement und Ökonomie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA)). Anästh Intensivmed. 2007; 48:282-90
3.
Muravchick S, Caldwell JE, Epstein RH, Galati M, Levy WJ, O'Reilly M, Plagenhoef JS, Rehman M, Reich DL, Vigoda MM. Anesthesia information management system implementation: a practical guide. Anesth Analg. 2008;107(5):1598-608.
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Epstein RH, Dexter F, Ehrenfeld JM, Sandberg WS. Implications of event entry latency on anesthesia information management decision support systems. Anesth Analg. 2009; 108(3):941-7.
5.
McIntosh C, Dexter F, Epstein RH. The impact of service-specific staffing, case scheduling, turnovers, and first-case starts on anesthesia group and operating room productivity: a tutorial using data from an Australian hospital. Anesth Analg. 2006; 103(6):1499-516.
6.
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10.
Benson M, Junger A, Quinzio L, Michel A, Marquardt K, Hempelmann G. Erfahrungsbericht über drei Jahre Routinebetrieb eines Anästhesie-Informations-Management-Systems (AIMS) am Universitätsklinikum Gießen. AINS-Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie. 1999; 34: 17-23.
11.
Künkel D, Bomsdorf B, Röhrig R, Ahlbrandt J, Weigand MA. Participative Development of touchless user interfaces: Elicitation and Evaluation of contac-less hand gestures for anesthesia. 9th Multi Conference on Computer Science and Information Systems 2015 (MCCSIS) - accepted