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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Warum Graphiken besser sind als Listen – Vergleich von unterschiedlichen Darstellungsformen klinischer Fällen anhand von Bottom-Up Saliency

Meeting Abstract

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  • Mareike Przysucha - Hochschule Osnabrück - University AS Osnabrück, Osnabrück, Deutschland
  • Ursula Hübner - Hochschule Osnabrück - University of Applied Sciences, Osnabrück, Deutschland
  • Daniel Flemming - Hochschule Osnabrück, Osnabrück, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 116

doi: 10.3205/15gmds084, urn:nbn:de:0183-15gmds0841

Published: August 27, 2015

© 2015 Przysucha et al.
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Einleitung: Schichtübergaben in Krankenhäusern sind Beispiele hochkommunikativer Prozesse, in deren Verlauf viele wichtige zusammenhängende Informationen, also komplexe Inhalte, in kurzer Zeit ausgetauscht werden. Ziel ist dabei, der nachfolgenden Schicht ein Bild, „the big picture“, über den Zustand eines Patienten zu vermitteln, um die Versorgungskontinuität zwischen den Schichten herzustellen. Zur Unterstützung von Übergaben wurde eine elektronische Patientenakte speziell für diesen Zweck (ÜbergabeEPA) entwickelt, die auf openEHR aufbaut [1]. Mittels dieser Akte können die wesentlichen Informationen zu einem klinischen Fall in graphischer Form als kognitive Landkarten und in herkömmlicher Listenform dargeboten werden [2], [3]. Eine kognitive Landkarte eines Falles zeigt problemorientiert die wichtigsten Informationen mit Hilfe einer visuellen Syntax auf. Aufgrund des visual capture [4], der Tatsache, dass visueller Input anderen sensorischen, beispielsweise auditiven, Input, überschreibt, war es wichtig, eine augenfällige Präsentationsform zu wählen, die die wichtigen Informationen in den Vordergrund setzt. Es wurde hypothetisiert, dass sich kognitive Landkarten besser dafür eigenen, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu erwecken und damit auch die Wahrnehmung und nachgelagerte kognitive Prozesse zu verbessern.

Die Aufmerksamkeit eines Betrachters hängt u.a. vom Auffälligkeitswert eines Objektes oder Pixels im Kontext des Gesamtbildes, der saliency [5] (deutsch Salienz) ab. Im Falle der ÜbergabeEPA betrifft dies die visuelle Salienz der auf dem Bildschirm präsentierten Informationen. Es gibt zwei unterschiedliche Ansätze bei der Berechnung dieser Auffälligkeitswerte: zum einen den Bottom-Up-Ansatz, bei dem Sensor-gesteuerte Salienzen berechnet werden, zum anderen den Top-Down-Ansatz, bei dem aufgabenabhängige Auffälligkeitswerte als salienter gekennzeichnet werden.

Dargestellt werden die Ergebnisse einer Salienz-Berechnung in Saliency Maps [6], Schwarz-Weiß-Bildern, die visuelle Auffälligkeiten im Bild anzeigen. Im Laufe der Zeit wurden unterschiedliche Verfahren zur Berechnung von Saliency Maps vorgestellt und – teilweise im Nachhinein - implementiert, der erste 1985 von Koch [6] (implementiert 1998), ein weiterer 2006 von Walther [7]. Für diese beiden Verfahren wird das Bild aufgrund bestimmter Merkmale, nämlich (Farb)Intensität, Farbgegensätze (rot-grün und gelb-blau) und lokale Orientierungen (Kanten), in Feature Maps dekomponiert und diese hinterher wieder in mehreren Zwischenschritten zur Saliency Map kombiniert. Je heller die Saliency Map an einem Punkt ist, desto salienter sind die zugehörigen Pixel.

In dieser Teilstudie soll untersucht werden, ob die kognitiven Landkarten gegenüber Listendarstellungen Unterschiede in der Salienz aufweisen und wenn ja, welche.

Material und Methoden: Zum Zweck der Bewertung der Salienz wurden die 8 klinischen Fälle, die in der ÜbergabeEPA für Evaluationszwecke gespeichert waren, genutzt, um kognitive Landkarten (cognitiveMaps) mit und ohne Schaltflächen am linken Rand und aufbereitete Listen in graphischer Form (detailLists) der Falldaten zu erstellen. Des Weiteren wurde die ÜbergabeEPA so abgewandelt, dass sie auch eine reine Listendarstellung als Visualisierung anbot. Von den cognitiveMaps, den detailLists und den reinen Listen wurden Screenshots erstellt. Diese wurden beispielhaft mit fünf verschiedenen Softwareprodukten (Neuromorphic Approach von Koch et al. [6], Saliency Toolbox von Walther [7], Context-aware saliency von Goferman et al., graphenbasierte Salienzen von Harel et al., Selfresemblance von Seo und Milanfar) analysiert, die jeweils andere Ansätze verfolgen. Die resultierenden Saliency Maps wurden auf besondere Merkmale hin untersucht.

Ergebnisse: Bei der reinen Listen-Darstellung zeigte sich, dass Schaltflächen mit bunten Bildern öfter einen hohen Salienzwert erhielten, ebenso wie die farbintensive Taskleiste am unteren Bildrand. Des Weiteren zogen Informationen, die untereinander stehen, gemeinsam die Aufmerksamkeit auf sich. Die Screenshots der detailLists wiesen ähnliche Ergebnisse auf. Auch hier erhielten die Taskleiste und bunte Schaltflächen bei unterschiedlichen Ansätzen eine hohe Salienz. Schwächere, aber dennoch relevante Salienzwerte erhielten einzelne Texte und die Titel der Einträge.

Bei den cognitiveMaps wurde zuerst eine leere cognitiveMap jeweils mit und ohne Schaltflächen zu Vergleichszwecken analysiert. In der leeren cognitiveMap mit Schaltflächen zeigt sich in allen Ansätzen, dass der Hauptfokus auf den bunten Schaltflächen lag (maximale Salienzwerte zwischen 0,463 und 1). Die Screenshots leerer cognitiveMaps ohne Schaltflächen hingegen wies kaum saliente Pixel oder nur im Randbereich auf (an der Position der Schaltflächen maximale Salienzwerte zwischen 0,110 und 0,761).

Die Analyse von Screenshots nicht-leerer cognitiveMaps zeigte, dass die entwickelten Figuren bei allen Implementationen salienter waren als ein Großteil der verbleibenden graphischen Benutzeroberfläche (maximale Salienzwerte von durchschnittlich 0,930 im Vergleich zu 0,192). Dennoch wurden auch hier die Schaltflächen, sofern eingeblendet, teilweise als salient(er) empfunden (maximale Salienzwerte von durchschnittlich 0,975). Werden die Schaltflächen jedoch ausgeblendet, verschiebt sie der Fokus fast vollständig auf die Figuren.

Sinnvolle Saliency Maps ließen sich mit allen Softwareprodukten erzeugen. Allerdings gab es Unterschiede in der Auswahl der spezifischen Region. Gemeinsam war jedoch allen unterschiedlich erzeugten Saliency Maps, dass nur nicht-leere cognitiveMaps starke saliente Areale im Bereich der informationshaltigen Regionen aufwiesen. In den Listendarstellungen (detailList und reine Listendarstellung) waren teilweise diejenigen Areale salient, die keine Fallinformationen beinhalteten, oder in Listen untereinander stehende Bereiche wurden gemeinsam als salient gekennzeichnet.

Diskussion: Saliency Maps sind ein wirksames Instrument, um Benutzeroberflächen auf Augenfälligkeit hin zu untersuchen. Dieses Instrument wurde bislang unseres Wissens nicht in der Medizinischen und Gesundheitsinformatik eingesetzt. Gerade aber im klinischen Alltag, der durch Zeitdruck und komplexe Geschehnisse diktiert wird, ist eine sachgerechte elektronische Präsentation des klinischen Falls extrem wichtig. Viele marktgängige Software-Anwendungen setzen auf eine Listendarstellung, die sich in betriebswirtschaftlichen Anwendungen bewährt hat, jedoch häufig auf Kritik aus den Reihen der Ärzte und Pflegekräfte stößt. Diese Untersuchung konnte die Defizite einer Listendarstellung für Situationen aufzeigen, in denen in kurzer Zeit das Gesamtbild eines medizinischen Falles übermittelt werden soll.

Die Saliency Maps boten darüber hinaus praktische Erkenntnisse für Verbesserungsmöglichkeiten der Benutzeroberfläche der ÜbergabeEPA, damit sich die Benutzer tatsächlich auf die fallbezogenen Inhalte konzentrieren können. Die Erkenntnisse, dass farbintensive Schaltflächen die Aufmerksamkeit ablenken können, dass jedoch ohne die Schaltflächen der Aufmerksamkeitsfokus sofort auf die cognitiveMap übergeht, spricht für einen Präsentationsmodus, in dem die Schaltflächen ausgeblendet werden. Listendarstellungen hingegen lassen einen solchen automatischen Fokus bei den Teilnehmenden an einer Schichtübergabe nicht zu, wie Ergebnisse in Form von unterschiedlichen Saliency Maps zeigen.

In einem nächsten Schritt werden die Ergebnisse der Saliency Maps mittels Eye Tracking validiert, u.a. um zu überprüfen, inwiefern der Aufmerksamkeitsfokus auf die cognitiveMaps bei der Aufgabe unterstützt, den klinischen Fall aufzunehmen.


Literatur

1.
Flemming D, Paul M, Hübner U. Building a Common Ground on the Clinical Case: Design, Implementation and Evaluation of an Information Model for a Handover EHR. Stud Health Technol Inform. 2014;201:167–74.
2.
Flemming D, Paul M, Hübner U. Die Funktionen einer Übergabe-EPA: Modellierung und Implementierung. In: GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 171. DOI: 10.3205/14gmds053 External link
3.
Paul M, Flemming D, Hübner U. Das handoverBoard – Ein Instrument zur Darstellung des klinischen Falls in Dienstübergaben. In: GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 182. DOI: 10.3205/14gmds054 External link
4.
Hay JC, Pick HL Jr, Ikeda K. Visual capture produced by prism spectacles. Psychonomic Science. 1965;2:215-216.
5.
Baluja S, Pomerleau DA. Expectation-based selective attention for visual monitoring and control of a robot vehicle. Robotics and Autonomous Systems. 1997 Dez;22(3-4):329-344
6.
Koch C, Ullman S. Shifts in Selective Visual Attention: Towards the Underlying Neural Circuitry. Human Neurobiology. 1985;4:219-227
7.
Walther D. Interactions of visual attention and object recognition: Computational Modeling, Algorithms, and Psychophysics [dissertation]. Pasadena (Cal): California Institute of Technology; 2006