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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Über (Aus)nutzung von Arztinformationssystemen und ärztliche (Lebens)qualität

Meeting Abstract

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  • Wolfgang B. Lindemann - Cabinet de Médecine Générale, Blaesheim, FR

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 083

doi: 10.3205/15gmds068, urn:nbn:de:0183-15gmds0685

Published: August 27, 2015

© 2015 Lindemann.
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Einleitung: Arztinformationssysteme (AIS) bieten dem Allgemeinpraktiker viele Funktionen, die die Patientenversorgung verbessern und Zeit und Arbeitskraft einsparen, z.B. automatische Warnhinweise bei der Medikamentenverschreibung oder Erstellung von Musterrezepten und -dosierungen. Seit Herbst 2013 evaluiere ich, wie diese Funktionen genutzt werden und was ihre Nutzung hemmt oder fördert

Material und Methoden: Seit 1. 1. 2012 setzt in Frankreich die 11. Convention [1] finanzielle Anreize zur Computerisierung der Praxen im allgemeinen und zur Verwendung eines zertifizierten AIS im besonderen, das u.a. automatische Warnhinweise bei der Verschreibung generiert. Seit 2013 werden erstmals Fortbildungen zu konkreten AIS aus dem Fortbildungsfond der staatlichen Krankenkasse (http://www.fafpm.org/) finanziert. Diese finden seit Herbst 2013 statt und dauern bei um die 10 Teilnehmern meist einen Tag. Mittels eines Fragebogens wurden die Verwendung von Funktionen der Arztpraxissoftware Axisanté 5 (Compugroup, über 25 000 Nutzer) evaluiert und Informationen über den befragten Arzt (m/w) erhoben. Gefragt wurde beispielsweise, ob die Kollegen Musterdosierungen, und Musterrezepte erstellt haben, wie sie auf Warnhinweise verschiedener Stufen reagieren oder welche Leitlinien sie wie oft verwenden. Die Antworten erfolgten als Likert-Skala, z.B. von „niemals“ bis „fast immer“. Die Befragten schätzten ihre Kenntnis von Axisanté 5 und ihre allgemeinen Computerkenntnisse auf einer Likert-Skala von „gering“ bis „sehr gut“ subjektiv ein. Anhand der Nutzung der Anwendungen Excel, Outlook, Powerpoint, Teamviewer, Skype, Facebook, eigenes Smartphone/iPhone, eigene Website wurde die Selbsteinschätzung der Computerkenntnisse zu objektivieren versucht.

Die ab März 2015 verwendete dritte Version des Fragebogens fragt zusätzlich, ob die Kollegen in einer Praxisgemeinschaft arbeiten und ob sie im 10-Finger-System schreiben.

Drei neue Fragen erfragen die Empathiefähigkeit, vier die Zufriedenheit mit dem Praxiscomputersystem durch Fragen nach Geschwindigkeit, Workflow, Nutzen und Bedienbarkeit.

Schließlich ermitteln zwei neue Fragen die allgemeine und berufliche Zufriedenheit. Anbetracht der Bedeutung des Computers im allgemeinärztlichen Alltag könnte seine Beherrschung und Funktionalität die Lebensqualität des Arztes beeinflussen [2]. Bis zur GMDS-Jahrestagung werden voraussichtlich >170 Kollegen diesen erweiterten Fragebogen ausfüllen.

Mein Fragebogen ähnelt teilweise dem „Electronic health record user satisfaction survey“ [3], den ich daher nachanalysiert habe. Wenn die Daten es rechtfertigen, soll auch die Nachanalyse früherer EHR-Surveys sowie von [4] vorgestellt werden. Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS 18. Die Signifikanzen sind, wenn nicht anders vermerkt, zweiseitiger Spearman’s rho.

Ergebnisse: Die 318 bisher befragten Ärzte sind zwischen 28 und 70 Jahren alt, im Mittel 52 Jahre. 42% sind Frauen. 40% haben keine Musterdosierungen und 46% keine Musterrezepte erstellt. 27.5% haben mehr als 10 Musterrezepte erstellt, 18.5% mehr als 50 Musterdosierungen.

52.6% haben kein Standardbriefformular erstellt (das automatisch Vorerkrankungen, Medikation etc. integriert).

Allergien und Vorerkrankungen werden von etwa 26% nie und von 24% (Allergien) bzw. 35.1% (Vorerkrankungen) „selten“ strukturiert erfasst. 27.7% erfassen Allergien „fast immer“ strukturiert und 13.5% „fast immer“ die Vorerkrankungen. Strukturierte Erfassung geschieht mit an die ICD-10 angelehnten Schlüsseldiagnosen, so dass Medikamenten-Kontraindikationen erkannt werden können.

Auf automatische Warnhinweise der höchsten Stufe bei der Medikamentenverschreibung reagieren 14.3% „nie“ und weitere 17.3% „selten“. 33.7% reagieren „immer“ auf diese. Auf Warnhinweise niedrigerer Stufen reagieren etwa 16% „immer“. Auch in [3] werden die Warnhinweise nicht als hilfreich gesehen.

Jeweils 40% geben an, das Programm „wenig“ oder „genügend“, zu kennen, 18.5% meinen es „gut“ zu kennen und nur n=7 „sehr gut“. Sie nutzen es im Mittel seit knapp 8 Jahren (Standardabweichung 6 Jahre). 37.8% nutzen „oft“ die Programmhilfe von Axisanté, 40.9% „nie“ und 62% hatten noch nie an einer Ausbildungsveranstaltung zu Axisanté teilgenommen. In [3] schätzen die Befragten ihre Kenntnisse mit etwa 3 auf einer Likert-Skala von 1 bis 5 ein: je besser sie ihr AIS zu beherrschen meinen, umso mehr Arbeit erspart es ihnen (p<0.013 r=0.433).

Die Selbsteinschätzung der Kenntnis von Axisanté korreliert mit der Nutzung seiner Funktionen (p<0.001 r=0.506), wer Axisanté besser nutzt, verwendet häufiger Leitlinien (p<0.001 und r=0.252) und nutzt es länger (p<0.001 r=0.230). Wer an Ausbildungsveranstaltungen teilgenommen hat, nutzt Axisanté besser (p<0.001 Mann-Whitney-U-Test).

Je mehr Patienten Kollegen pro Tag behandeln, desto mehr integrieren sie Befunde (p=0.001 r=0.188), verwenden aber nicht häufiger das dazu dienende Zusatzmodul Aximessage.

45.3% schätzen ihre allgemeinen Computerkenntnisse als „gering“ ein, 19.2% als „gut“ und nur n=7 als „sehr gut“. Dies korreliert mit der Nutzung der 8 Standardanwendungen (p<0.001 r=0.241). Wer bessere allgemeine Computerkenntnisse hat, nutzt die Funktionen von Axisanté besser (p<0.001 r=0.228) und verwendet häufiger Leitlinien (p<0.001 r=0.329). Da erst n=106 Ärzte den erweiterten Fragebogen ausgefüllt haben, werden die zusätzlichen Fragen hier noch nicht ausgewertet.

Diskussion: Es imponiert die geringe (Aus)nutzung selbst der Funktionen, die Zeit und Arbeit sparen, obwohl die Kollegen Axisanté schon Jahre benutzen. Dazu passend schätzen sie ihre Kenntnis des Programmes als gering ein und nur eine Minderheit hat an Ausbildungsveranstaltungen teilgenommen. Dass sie auch die eingebaute Hilfe kaum nutzen, weist auf eine geringe „Computer litteracy“ hin, was die niedrige Zahl von Ärzten, die im Zehnfingersystem schreiben, bestätigt (nur n=20 der 106 Ärzte, die den erweiterten Fragebogen beantwortet haben).

Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen und längere Nutzung führen zu besserer Nutzung. Nutzung per se hat einen übend-ausbildenden Effekt: Ausbildung ist also sinnvoll. Analog finden [5] und [6] eine Korrelation zwischen der Nutzungshäufigkeit eines AIS und dessen erlebtem Nutzen. In [6] empfinden Ärzte ihr AIS als hilfreicher, die das Internet mehr nutzen, was als Proxy für ihre allgemeinen Computerkenntnisse dient.

Dass stärker frequentierte Praxen Axisanté tendenziell mehr externe Befunde integrieren, suggeriert, dass diese Funktion Arbeit spart, was analog [3] findet.

Leitliniennutzung geht mit besseren Computerkenntnissen und besserer Axisanté-Nutzung einher: Ursache ist vielleicht eine prädisponierende „systematisch-gewissenhafte“ Persönlichkeit (während vielleicht „empathische“ Persönlichkeiten mit Computern und Leitlinien Schwierigkeiten haben).

Dass nach Autorenangabe [7] das erste publizierte Trainingsprogramm für ein Arztinformationssystem ist, bezeugt ebenfalls die insuffiziente Computerausbildung von Ärzten.

Automatische Warnhinweise bei der Medikamentenverschreibung sind größtenteils wenig relevant [8], [9] und nach Autorenangabe ist [9] die erste Studie überhaupt, ihre Effizienz zu erhöhen. Die beobachtete niedrige Reaktivität ist daher wohl weniger schlechte ärztliche Praxis als Adaptation an ein dysfunktionales System.

[10] findet bei 376 französischen Allgemeinpraktikern eine deutlich bessere AIS(Aus)nutzung, allerdings sind die Fragen (wie in [5] und selbst in [6]) wesentlich „oberflächlicher“ als meine und viele Angaben wecken bei mir Zweifel an der Validität der Studie, wenn z.B. 25% weder Handy noch Smartphone, aber 27% eine Praxiswebsite besitzen sollen.


Literatur

1.
ameli.fr. http://www.ameli.fr/professionnels-de-sante/medecins/votre-convention/index_rhone.php ) External link
2.
Jones CD, Holmes GM, Lewis SE et al. Satisfaction with electronic health records is associated with job satisfaction among primary care physicians. Inform Prim Care. 2013; 21 (1): 18-20
3.
Edsall RL, Adler KG. The 2012 EHR user satisfaction survey: responses from 3088 family physicians. Fam Prac Manag. 2012 November/December: 23-30
4.
Jung M, Hoerbst A, Hackl WO, et al. Attitude of physicians towards automatic alerting in computerized physician order entry systems. Methods Inf Med. 2013; 52 (2): 99-108
5.
Villalba-Mora E, Casasc I, Lupiañez-Villanueva F, et al. Adoption of health information technologies by physicians for clinical practice: The Andalusian case. Int J Med Inform. 2015 (im Druck). DOI: 10.1016/j.ijmedinf.2015.03.002 External link
6.
Raymond L, Paré G, Ortiz de Guinea A, et al. Improving performance in medical practices through the extended use of electronic medical record systems: a survey of Canadian family physicians. BMC Medical Informatics and Decision Making. 2015: 15-27. DOI: 10.1186/s12911-015-0152-8 External link
7.
Pantaleoni JL, Stevens LA, Mailes ES, et al. Successful physician training program for large scale implementation. Appl Clin Inf. 2015; 6: 80-95
8.
Ammenwerth E, Aly AF, Bürkle T, et al. Memorandum on the use of information technology to improve medication safety. Methods Inf Med. 2014; 53 (5): 336–343
9.
Seidling HM, Klein U, Schaier M, Czock, et al. What, if all alerts were specific – Estimating the potential impact on alert burden. Int J Med Inf. 2014; 83: 285-291
10.
Codagnone C, Lupiañez-Villanueva F. Benchmarking Deployment of eHealth among general practitioners. European Commission DG communications network; 2013. DOI: 10.2759/24556 External link