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Positionen zur Einführung von SNOMED-CT und zu statistischen Klassifikationen (als Auslaufmodell?)
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Published: | September 14, 2004 |
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Einleitung
Die Relevanz standardisierter Terminologiesysteme ist für die rechnergestützte Verarbeitung medizinischer Daten unbestritten, u.a. für Suchanfragen, datengestützte Entscheidungsunterstützung, Kommunikation von Daten bzw. Dokumenten sowie statistische Auswertungen. In jüngster Zeit wurden im Zusammenhang mit der U.S. amerikanischen NHII-Initiative [Ref. 1] zum Aufbau einer nationalen IT-Infrastruktur im Gesundheitswesen u.a. verfügbare Terminologien hinsichtlich bestimmter Qualitätskriterien untersucht. Mit diesen Kriterien werden begriffsorientierte, möglichst ausdrucksstarke Terminologien für die Primärdatenerfassung bevorzugt. Statistische, primär diskriminierende Klassifikationen werden aufgrund ihrer inhärenten Nachteile möglichst nur für Sekundärzwecke akzeptiert [Ref. 2]. Im Vordergrund steht der Aspekt der Qualität der einmal erhobenen klinischen Primärdaten für eine Wiederverwendung für sekundäre Zwecke. Herausgekommen ist ein Bericht, in dem im Wesentlichen SNOMED-CT als begriffsorientierte Referenzterminologie zur Verwendung empfohlen wird. Die Konzepte aus relevanten Klassifikationen sind entweder in ihr enthalten oder aber ein Mapping ist anzubieten, etwa für ICD-10, OPS-301, KTL, ICF, ICNP oder MedDRA. Mit diesen Entwicklungen ergeben sich Fragestellungen, die aus vier Sichtweisen kurz angedeutet werden sollen. Aufgrund des Platzmangels kommen dabei die unbestreitbaren Vorteile zu kurz, die ohne Zweifel für eine potentielle deutsche Einführung von SNOMED-CT sprechen. Gerade deswegen wird hier der schwierige Versuch unternommen, einige kritische Anmerkungen zum „Zurückdrängen" der statistischen Klassifikationen sowie zur Einführung von SNOMED-CT zu formulieren. Eine breite Diskussion in der GMDS mit Terminologieexperten, Biometrikern und Epidemiologen als Nutzer wäre anzustreben.
Theoretische Fragestellungen
Begriffsorientierte Terminologiesysteme stützten sich auf Begriffsdefinitionen mit explizit repräsentierten Merkmalen und Relationen untereinander und realisieren dabei inhärent eine Polyhierachie. Sie definieren eine ausdrucksstarke standardisierte „Sprache", die dem Nutzer Freiheiten zur Kodierung der für ihn relevanten Aspekte gibt. Statistische Klassifikationen stellen eine monohierarchische Klassenhierarchie mit relevanten und häufigen Klassen für bestimmte Zwecke bereit, die eine eindeutige Zuordnung von vordefinierten Entitäten in Klassen als Zähleinheiten erlauben. Dieses wird u.a. erreicht durch Restklassen (Vollständigkeit) sowie Klassenzugehörigkeitsregeln (Disjunktheit). Hieraus ergeben sich folgende Fragen:
• Jedes Statistik-Lehrbuch fordert auf seinen ersten Seiten eine disjunkte und vollständige Kategorisierung von Merkmalen für eine statistische Auswertbarkeit. Ist eine statistische Auswertbarkeit von SNOMED-CT-kodierten Daten denkbar [Ref. 3]?
• Ist ein Mapping auf Klassifikationen denkbar, ohne dass bei der Primärdatenerfassung deren Systematik berücksichtigt wird? Hierzu heißt es in [Ref. 4]:
„Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Systematische Verzeichnis der ICD-10-GM 2004 eine wichtige Ergänzung des IDT 2004 darstellt und die Benutzung seiner Buchausgabe jedem, der verschlüsselt, zusätzlich zum IDT dringend empfohlen wird, zumal auch EDV-Programme den komplexen Informationsinhalt der ICD-10-GM 2004 praktisch nie umfassend wiedergeben können."
• Ist für ein solches Mapping bzw. zur Gewährleistung einer Wiederverwendbarkeit nicht mindestens eine Festlegung eines Minimaldatensatzes notwendig?
•Welche Rolle spielen verschiedene Arten des Kontextes der Datenerhebung für eine Wiederverwendbarkeit [Ref. 5]?
Fachterminologische Fragestellungen
Statistische Klassifikationen werden wegen struktureller Defizite laut ISO 17117 [Ref. 6] nicht mehr den Terminologien zugerechnet. Aufgrund mangelnder Klassendefinitionen kommt es zu den bekannten Problemen. Gleichwohl weisen Klassifikationen wie die ICD-10 ein alphabetisches Verzeichnis auf, mit welchem Klasseninhalte zumindest textuell differenzierter repräsentiert werden können. Analog zum MeSH-Thesaurus [Ref. 7] kann dieses von einer term-orientierten zu einer begriffsorientierten Struktur erweitert werden, um etwa Synonymie und Begriffsrelationen anzubieten.
• Macht es einen Sinn, Klassifikationen nur noch als Aggregationsraster auf einer Meta-Ebene zu betrachten mit der Ignorierung ihrer durchaus eigenen terminologischen Anteile (z.B. Hinweise, Definitionen in ICD-10 Kapitel V „Psychiatrie)?
• Muss die MI-Lehre insbesondere in Deutschland mit Begriffssystemen fürs Retrieval und Klassifikationen für statistische Auswertungen revidiert werden?
Praktische Fragestellungen
Mit SNOMED-CT zur Primärdatenerfassung ergeben sich praktische Fragen:
• U.a. bei einer strukturierten, möglichst vollständigen Datenerfassung muss in der Praxis die Frage nach der Beherrschbarkeit und Akzeptanz gestellt werden.
• Eine dem Nutzer verborgene Repräsentation hinter einer lokalen „Eingabeterminologie" wäre denkbar, wie sie in vorhandener Kodiersoftware realisiert wird.
• Kann für eine Wiederverwendung von Daten im Sinne einer späteren Abbildung in Klassifikationen die Notwendigkeit der Beachtung von Klassifikationsregeln bereits bei der Primärdatenerfassung ausgeschlossen werden?
• Ist es dabei trotz zugestandener Nachteile nicht unrealistisch, wenn bei der Primärerfassung etwa von DRG-relevanten Daten deren Klassifikationslogik komplett ignoriert wird? Im Gegenteil, die Kodierrichtlinien schreiben ja gerade detaillierte Vorgehensweisen bei der Kodierung vor.
• Zeigt nicht die Diskussion um die freiwillige Verwendung des nicht-amtlichen Teils der OPS-301-Version, dass einer Wiederverwendbarkeit klinischer Daten (hier zur Kalkulation des G-DRG-Systems) nicht ohne Einschränkungen zuzustimmen ist?, siehe http://www.krankenhaus-aok.de unter G-DRG/Kodierung.
Fachpolitische Fragestellungen
Zanstra et al. [Ref. 8] haben in einer Machbarkeitsstudie die Konsequenzen einer gemeinfreien Einführung einer holländischen SNOMED-CT analysiert und entsprechende Empfehlungen ausgesprochen. Einige der hier aufgeworfenen Fragen lauten:
• Handelt es sich bei der SNOMED-CT bereits um eine hinreichend ausgereifte Terminologie und gibt es genügend Anwendungserfahrungen?
• SNOMED-CT nutzt Beschreibungslogiken zur formalen Begriffsrepräsentation. Eine Diskussion der Modellierungsmethodik im Vergleich zum GALEN-Projekt wäre wünschenswert [Ref. 9]. Es ist beabsichtigt, dem Endbenutzer SNOMED-CT als „kompilierte" Terminologie mit prä-koordinierten Konzepten bereitzustellen.
• Wie stellt sich der Zusammenhang mit Initiativen wie HL7 Version 3 dar?
• Welche Konsequenzen hat das für Aufgaben wie eine G-DRG-Gruppierung?
• Welche Vorgehensweise hinsichtlich einer Lizenzierung, Pflege einer übersetzten Fassung und Schulung ist anzustreben?
• Welcher Nutzen steht den Lizenz-Kosten gegenüber (die Lizenz in den USA für 5 Jahre kostete 32,4 Millionen Dollar)? Oder anders gefragt: Lassen sich die anvisierten Nutzungspotentiale beim jetzigen Stand der IT im Gesundheitswesen in Deutschland realisieren [Ref. 10]? Oder: Welche Systemanforderungen bedingt das?
• Die Kosten für die Integration und Pflege einer solchen SNOMED-CT-Terminologie in Anwendungssoftwaresystemen muss abgeschätzt werden, insbesondere mit Vertretern des „Spitzenverbandes IT im Gesundheitswesen (svitg)".
• Welche Vorgehensweise bzgl. stabiler konsistenter Mappings in nationale Klassifikationen sowie bzgl. lokaler Adaptationen der SNOMED-CT ist anzustreben?
• Wie lautet die Strategie einer Erprobung und Einführung von SNOMED-CT?
Für diese und andere Fragen ist geplant, eine GMDS-PG „Terminologische Standards in der Medizin" als Forum für nicht-amtliche Terminologien einzurichten.
Literatur
- 1.
- NHII (2003). National Health Information Structure: U.S. amerikanische Initiative für eine standard- konforme Gesundheitsinformationssystem-Infrastruktur, siehe http://aspe.hhs.gov/sp/nhii/index.html
- 2.
- Ingenerf, J., Giere, W. (1998). Concept oriented Standardization and Statistics oriented Classification: Continuing the Classification versus Nomenclature Controversy. Meth. Inform. Med. 37 (4-5), 527-539
- 3.
- Stuart-Buttle, C.D.G., Ashely, J.S.A., O´Neil, M. (1997). Clinical Vocabularies - Their Potential as Classifications. In: AMIA Annual Fall Symposium, 5 pages
- 4.
- ICD-10-GM (2004). Diagnosenthesaurus - Alphabetisches Verzeichnis zur Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten verwandter Gesundheitsprobleme für die ambulante und stationäre Versorgung, Version 2004. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag (ISBN 3-7691-3205-X).
- 5.
- Berg, M., Goorman, E. (1999). The contextual nature of medical information. Int J Med Inf 56, 51-60
- 6.
- ISO/DTS 17117 (2003). Health informatics. Controlled health vocabularies - Vocabulary structure and high-level indicator (circulating for voting), siehe http://www.tc215wg3.nhs.uk
- 7.
- Johnston, D., Nelson, S.J., al., e. (1998). Redefining a Thesaurus: Term-Centric No More. AMIA 1998 Annual Symp., siehe http://www.nlm.nih.gov/mesh/staffpubs.html
- 8.
- Zanstra, P.E., van der Haring, E.J., Cornet, R. (2003). Introduction of a Clinical Terminology in The Netherlands - Needs, Constraints, Opportunities, siehe http://www.nictiz.nl
- 9.
- Rector, A. (2003). Medical Informatics. In: Baader, F. et al. (Hrsg.). The Description Handbook. Cambridge: University Press, 406-426
- 10.
- Nee, O. (2003). Ein Programm zur SNOMED-basierten Recherche von Patientendaten und Medizinwissen. Institut für Medizinische Informatik, Universität zu Lübeck: Diplomarbeit