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An welcher Zeit(ebene) orientieren sich Patient*innen mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung? Ergebnisse einer internationalen Interview-Studie
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Published: | October 2, 2023 |
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Hintergrund und Stand der Forschung: Das Wissen um eine lebensbegrenzende Erkrankung wirkt sich auf körperliche, soziale und emotionale Lebensbereiche von Patient*innen aus, deren Bedürfnisse sich dadurch verändern. Der nahende Tod beeinflusst das Denken über die Zeit, was wiederum zu einem veränderten Umgang mit den Gedanken an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führt. In einer existenziellen Situation, wie dem Fortschreiten einer lebensbegrenzenden Erkrankung, kann der Fokus vor allem auf das Selbst und die aktuelle Situation gerichtet sein. Andererseits ist auch ein Fokus auf die Zukunft bezüglich der verbleibenden Zeit oder Ängsten, die mit dem Gedanken an Tod und Sterben zusammenhängen, möglich. Die Ergebnisse einer niederländischen Studie deuten darauf hin, dass Patient*innen mit einer lebensbegrenzenden Krebsdiagnose in den Tag hineinleben und sich mehr auf die Vergangenheit konzentrieren.
Fragestellung und Zielsetzung, Hypothese: Ziel der iLIVE-Studie ist es, international Erkenntnisse über die Erwartungen, Sorgen und Präferenzen in der Versorgung von Patient*innen am Lebensende zu gewinnen. Dazu gehört die induktive Unter-Fragestellung, in welcher Zeit(ebene) sich die Gedanken der Patient*innen meist befinden und welche Themen dieser zugeordnet werden.
Methode: Thematic Analysis von 57 halbstrukturierten Interviews aus zehn Ländern mit Patient*innen mit unterschiedlichen lebensbegrenzenden Erkrankungen und einer geschätzten Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten.
Ergebnisse: Die Gedanken der Patient*innen waren auf alle Zeitebenen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) ausgerichtet. Darüber hinaus wurde eine weitere Zeitebene gefunden (Zukunft nach dem Tod). Themen in Bezug auf die Vergangenheit waren „Reue und Bedauern“, z.B. hinsichtlich Lebens- und/oder Gesundheitsentscheidungen, aber auch „mit sich selbst ins Reine kommen“ und „positive Erinnerungen wiedererleben“. Die Gegenwart wurde mit „Abschiednehmen und Finden eines Abschlusses“, mit „Demut und Dankbarkeit für das Leben“, mit „Achtsamkeit“ und „Leben in den Tag hinein“ in Verbindung gebracht. Die Zukunft zeigte sich in Aspekten wie „Sorgen und Ungewissheit über die Zukunft“, „Gedanken und Erwartungen über Tod und Sterben“, den „Wunsch zu sterben“, aber auch „Hoffnung“ und „Vorfreude auf zukünftige Projekte“. Gedanken an die Zukunft nach dem Tod äußerten sich in „Sorgen um das Wohlergehen der Liebsten“ nach dem Tod der Patient*innen „Vorbereitungen für eine Zukunft nach dem Tod“, z.B. die Organisation der Beerdigung und des Erbes, sowie Gefühle im Zusammenhang mit dem „Nicht-Da-Sein“.
Diskussion: Die Studie zeigt, dass für die Versorgung wichtige psychosoziale Themen auf allen Zeitebenen vorliegen. Die Gedanken über die Zukunft der Zurückbleibenden nach dem Tod der Patient*innen zeigt, dass der „unit of care“, also der Betrachtung von Patient*in und Angehörigen als Versorgungseinheit, selbst über den Tod der Patient*innen hinaus eine große Bedeutung zukommt.
Implikation für die Versorgung: Die Zusicherung psychologischer Unterstützung von Angehörigen über den Tod der Patient*innen hinaus kann sich bereits in der Gegenwart auf die Verbesserung der Versorgungsqualität auswirken.
Förderung: Sonstige Förderung; 825731 — LIVE — H2020-SC1-BHC-2018-2020/H2020-SC1-2018-Single-Stage-RTD