gms | German Medical Science

21. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

05.10. - 07.10.2022, Potsdam

Navigationale Gesundheitskompetenz bei Menschen mit Migrationshintergrund: Ergebnisse des HLS-MIG

Meeting Abstract

  • Julia Klinger - Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität zu Köln, Köln, Deutschland; Interdisziplinäres Institut für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
  • Lennert Griese - Interdisziplinäres Institut für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
  • Eva-Maria Berens - Interdisziplinäres Institut für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
  • Sarah Carol - School of Sociology, University College Dublin, Dublin, Ireland
  • Doris Schaeffer - Interdisziplinäres Institut für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

21. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Potsdam, 05.-07.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. Doc22dkvf468

doi: 10.3205/22dkvf468, urn:nbn:de:0183-22dkvf4687

Published: September 30, 2022

© 2022 Klinger et al.
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Text

Hintergrund: Das deutsche Gesundheitssystem gilt als hochkomplex und unübersichtlich. Sich in seiner Instanzenvielfalt zu orientieren, die richtigen Ansprechpartner ausfindig zu machen und eine angemessene Versorgung zu realisieren, stellt eine anspruchsvolle Aufgabe für Nutzende dar. Dabei sind sie auf einen versierten Umgang mit Informationen über das Gesundheitssystem angewiesen und benötigen navigationale Gesundheitskompetenz (NGK). Bisher ist wenig über die NGK von Menschen mit Migrationshintergrund (MH) in Deutschland bekannt – auch, weil Studien fehlten. Besonders bei Eingewanderten aus Ländern mit deutlich anderen Gesundheitssystemen ist zu erwarten, dass bei der Navigation große Herausforderungen bestehen, was die NGK umso relevanter macht.

Fragestellung und Zielsetzung: Mit der Studie HLS-MIG erstmalig eine Messung der NGK in zwei großen Migrationsgruppen: Menschen mit ex-sowjetischem und türkischem MH. Ziel des Beitrags ist, die Ausprägung der NGK bei ihnen zu bestimmen und festzustellen, welche Teilgruppen vulnerabel für geringere NGK sind.

Methode: Die Daten basieren auf deutschlandweit geführten Interviews auf Deutsch, Russisch oder Türkisch mit 525 Personen mit ex-sowjetischem und 512 Personen mit türkischem MH. Die NGK wurde anhand der wahrgenommenen Schwierigkeiten bei 12 Informationsaufgaben zur Navigation im Gesundheitssystem operationalisiert. Sie wurde unter Berücksichtigung demografischer und sozioökonomischer, sprachlicher und migrationsspezifischer Aspekte bivariat und multivariat analysiert.

Ergebnisse: Die NGK ist bei Personen mit ex-sowjetischem und türkischem MH insgesamt gering. Bei sozioökonomisch benachteiligten Personen, älteren Menschen sowie Personen, die nicht in Deutschland geboren wurden oder die Probleme mit der deutschen Sprache haben, fällt sie noch einmal geringer aus.

Diskussion: Der Umgang mit Informationen über das Gesundheitssystem und seine Organisationen ist für Menschen mit MH überwiegend schwierig. Die NGK unterliegt ‒ wie Gesundheitskompetenz generell ‒ einem sozialen Gradienten, das bedeutet, dass sozial benachteiligte Personengruppen eine geringere NGK aufweisen. Dies ist besonders brisant vor dem Hintergrund, dass diese Gruppen auch vulnerabler für gesundheitliche Probleme sind und daher stärker auf die Nutzung des Gesundheitssystems angewiesen sind.

Praktische Implikationen: Die Förderung der NGK muss sich im Sinne der gesundheitlichen Chancengleichheit besonders auf diese Gruppen konzentrieren. Da die NGK einen relationalen Charakter hat und Schwierigkeiten mit Gesundheitsinformationen erheblich durch die Anbieterseite bestimmt werden, sollten Maßnahmen hier ansetzen. Vor dem Hintergrund stetiger Fluchtmigration nach Deutschland sollten Menschen mit Fluchterfahrung und geringen Deutschkenntnissen dabei besonders berücksichtigt werden.

Appell für die Praxis: Das Gesundheitssystem sollte unbedingt nutzungsfreundlicher gestaltet werden, was einfach verständliche Informationen zur Navigation im System und in seinen Organisationen einschließt.

Förderung: Sonstige Förderung