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20. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

06. - 08.10.2021, digital

Die Rolle der Sportwissenschaft in der bewegegungsbezogenen Versorgungsforschung – Ergebnisse aus den Modellprojekten PROCARE und PROfit

Meeting Abstract

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  • Bettina Wollessen - Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland

20. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). sine loco [digital], 06.-08.10.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. Doc21dkvf231

doi: 10.3205/21dkvf231, urn:nbn:de:0183-21dkvf2316

Published: September 27, 2021

© 2021 Wollessen.
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Hintergrund und Stand (inter)nationaler Forschung: Bewegungsinterventionen in Pflegeeinrichtungen sind seit längerer Zeit fester Bestandteil der Versorgung von Pflegebedürftigen. Seit Einführung des neuen Präventionsgesetzes 2015 erfahren diese Interventionen zunehmend Förderung und wissenschaftliche Evaluation. Um die Interventionen möglichst bedarfsgerecht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Erfordernisse des Settings anzupassen, werden aktuell viele interdisziplinäre Forschungsprojekte unter Einbezug der Sportwissenschaft umgesetzt. Anhand der multizentrischen Modellprojekte PROCARE und PROfit zeigt dieser Beitrag die besondere Bedeutung sportwissenschaftlicher Forschung zur zielgerichteten Bewegungsversorgung auf. Beide Projekte implementieren innovative Bewegungsinterventionen für Pflegeheim-bewonerInnen, in denen alltagsnahe motorische und kognitive Aufgaben im Training kombiniert werden (Doppelaufgaben). In PROfit liegt der Fokus zusätzlich in der konkreten Förderung der Orientierungsfähigkeit durch speziell zu diesem Zweck entwickelte Orientierungsübungen.

Fragestellung und Zielsetzung: Übergeordnetes Ziel beider Studien ist die Förderung der Selbstständigkeit von PflegeheimbewohnerInnen im Alltag. Dadurch könnte sowohl die Lebensqualität der PflegeheimbewohnerInnen beeinflusst werden als auch eine Entlastung des Pflegepersonals entstehen. Welche Effekte auf zentrale Outcomes der Mobilität, Kognition und des psychosozialen Wohlbefindens lassen sich abbilden? Wie werden diese innovativen Interventionen im Setting akzeptiert?

Methode: In N=66 Pflegeeinrichtungen (PROCARE n=48, PROfit n=18) wurden die Multikomponentenprogramme im Rahmen von zwei RCTs mit Wartezeitkontrollgruppen implementiert und evaluiert. Das Training umfasste 16 Wochen in PROCARE und 12 Wochen in PROfit (jeweils zweimal 45–60 Minuten pro Woche). Die inhaltliche Ausrichtung des Trainings umfasst in beiden Projekten die Komponenten Kraft, Beweglichkeit und kognitiv-motorisches Gangtraining mit einer progressiven Belastungssteigerung. PROfit sieht zusätzlich Ortswechsel innerhalb des Trainings und die Einbindung markanter Orientierungspunkte- und Übungen innerhalb der Pflegeeinrichtung vor. Die Ein- und Ausgangsmessungen sowie das Follow-Up erfassten Parameter wie die selbstständige Ausführung von Alltagstätigkeiten (ADLs; Barthel-Index), Gangparameter und die Funktion der unteren Extremitäten (Short Physical Performance Battery), kognitive Leistungsfähigkeit (Doppelaufgabentests), Lebenszufriedenheit (Satisfaction with Life-Scale) die Handkraft und der Functional Reach gemessen. Zusätzlich werden in PROfit auch die Orientierungsfähigkeit (Spatial Orientation Test, Direction Pointing sowie der Bewegungsradius der BewohnerInnen (Nursing Home Life Space-Diameter) in und um die Einrichtung erfasst.

Ergebnisse: Erste Ergebnisse im Rahmen von PROCARE zeigten Verbesserungen der Trainingsgruppe in der selbstständigen Ausführung von ADLs, den motorischen Funktionen der unteren Extremitäten, der Handkraft, dem Functional Reach, der Kognition, dem Wohlbefinden und der Lebenszufriedenheit. In der Kontrollgruppe, die in derselben Zeit kein Training erhielt, verschlechterten sich diese Parameter über den Trainingszeitraum von 16 Wochen (Interaktionseffekt p < .03; Effektstärke > .15). Erhobene Gangparameter blieben ebenfalls stabil (Interventionsgruppe) während sich in der die Kontrollgruppe die Gangqualität verschlechterte. Die ersten Implementierungen von PROfit stoßen besonders nach der COVID-19-bedingten Isolation der letzten Monate auf hohen Zuspruch der PflegeheimbewohnerInnen.

Diskussion: Die entwickelten Trainingsprogramme im Rahmen der Bewegungsversorgung in den Einrichtungen erfahren eine große Akzeptanz. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Interventionen kognitive und motorische Ressourcen der Interventionsgruppe erhalten und die Lebensqualität steigern, während die Kontrollgruppe bekannte Funktionseinbußen erfährt [1]. Die Anpassung und bedarfsgerechte Umsetzung der Interventionen auf Basis sportwissenschaftlicher Expertisen trägt maßgeblich zum Interventionserfolg bei.

Praktische Implikationen: Trotz häufiger Multimorbidität von PflegeheimbewohnerInnen, die mit kognitiven und motorischen Einschränkungen einhergeht, können zielgruppenspezifische und bedarfsgerechte Multikomponenteninterventionen positive Effekte auf die Motorik, die Kognitiion und das psychosoziale Wohlbefinden haben. Dadurch werden die Selbstständigkeit und die Lebensqualität der BewohnerInnen beeinflusst. Eine regelmäßige Teilnahme an den Trainingseinheiten und seltene Interventionsabbrüche durch die BewohnerInnen deuten dabei auf eine hohe Akzeptanz dieser Form von Bewegungsversorgung hin. Die Abstimmung der Trainingsinhalte an individuellen Bedürfnissen und Ressourcen der BewohnerInnen vor dem Hintergrund sportwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie die Unterstützung durch das Pflegepersonal erwiesen sich dafür als sehr förderlich.


Literatur

1.
Masciocchi E, Maltais M, Rolland Y, Vellas B, de Souto Barreto P. Time Effects on Physical Performance in Older Adults in Nursing Home: A Narrative Review. J Nutr Health Aging. 2019;23(6):586-94. DOI: 10.1007/s12603-019-1199-5 External link