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19. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

30.09. - 01.10.2020, digital

Geringe soziale Unterstützung als Vulnerabilität für Versorgung bei chronischen Erkrankungen – Longitudinale Fallanalysen

Meeting Abstract

  • Hella Fügemann - Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane
  • Ute Goerling - Charité Comprehensive Cancer Center, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Kathrin Gödde - Institut für Public Health, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Anke Desch - Institut für Public Health, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Bob Siegerink - Centrum für Schlaganfallforschung Berlin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Jacqueline Müller-Nordhorn - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
  • Nina Rieckmann - Institut für Public Health, Charité – Universitätsmedizin Berlin

19. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). sine loco [digital], 30.09.-01.10.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc20dkvf420

doi: 10.3205/20dkvf420, urn:nbn:de:0183-20dkvf4209

Published: September 25, 2020

© 2020 Fügemann et al.
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Hintergrund und Stand (inter)nationaler Forschung: Patientennavigation hat das Ziel, Patienten mit Risiko einer suboptimalen Versorgung Unterstützung in immer komplexeren Versorgungssystemen zu bieten. Für das deutsche Gesundheitswesen zeigt sich zunehmend, dass gerade auch Patienten mit geringer sozialer Unterstützung vulnerabel sind.

Fragestellung und Zielsetzung: Welche Faktoren führen zu Versorgungsschwierigkeiten bei Lungenkrebs- und Schlaganfallpatienten? Welche Strategien wenden Patienten an, um diese Schwierigkeiten zu bewältigen und eine für sich angemessene Versorgung zu erhalten?

Methode oder Hypothese: Durchgeführt wurde eine longitudinale Interviewstudie mit 20 Lungenkrebs- und 20 Schlaganfallpatienten zu ihrer Versorgungssituation mit drei Befragungen innerhalb eines Jahres. Aus diesem Sample wurden Fallbeispiele ausgewählt, die in der Baseline-Befragung durch gravierende Schwierigkeiten in ihrer Versorgung auffielen. Es wurden longitudinale Fallanalysen durchgeführt.

Ergebnisse: Die ausgewählten Patienten waren zum Zeitpunkt der Baseline-Befragung 41 (w.), 62 (m.) und 63 (m.) Jahre alt, lebten allein und hatten kein soziales Netzwerk zur Verfügung. Ihre Versorgungssituation war charakterisiert durch gesundheitliche und ökonomische Einschränkungen und fehlende ärztliche Betreuung. Die Situation wurde von ihnen als emotional belastend bezeichnet und drückte sich u.a. durch Schwierigkeiten in der Haushaltsführung, in Verzögerungen des Rehabilitationsbeginns und in Unklarheit der weiterführenden ambulanten Behandlung aus. Im Erkrankungsverlauf konnten erlebte Hürden und Belastungen überwunden werden. Dies geschah durch die (Re-)Aktivierung sozialer Beziehungen: durch Mitbetroffene, die Hinweise auf gute Ärzte gaben oder durch Unterstützung der ehemaligen Partnerin, die wieder die Haushaltsführung übernommen hatte oder durch eine Bekannte, die einer Patientin zu einer neuen Arbeitsstelle verhalf.

Diskussion: Die Fallbeispiele weisen eine anfängliche Vulnerabilität auf, die stark durch fehlende soziale Unterstützung beeinflusst ist. Bei Krankheiten, bei denen eine frühe kontinuierliche medizinisch-therapeutische Versorgung wichtig ist, könnte demnach ein frühzeitiger Einsatz von Navigatoren zentral sein. Gleichzeitig zeigt der Verlauf, dass die identifizierten Patienten letztendlich Ressourcen mobilisieren konnten, mit deren Hilfe sie eine angemessene Versorgung und Bewältigung des Alltags erhielten. Dies zeigt, dass auch eine Vulnerabilität hinsichtlich suboptimaler Versorgung ein dynamisches Geschehen ist und dass soziale Unterstützung auch von entfernteren Netzwerkmitgliedern positive Einflüsse auf die Versorgung haben kann.

Praktische Implikationen: Für Navigationsprogramme ist wichtig, für ihre unterstützenden Maßnahmen in kritischen Krankheitsphasen einen aktiven Zugang zu Patienten zu finden, die aufgrund geringer sozialer Unterstützung eine Vulnerabilität im Sinne von Versorgungsschwierigkeiten aufweisen. Die Unterstützung bei der Mobilisierung möglicher sozialer Ressourcen im weiteren Umfeld der Patienten könnte auch bei fehlenden engen Bezugspersonen ein wichtiger Bestandteil von Navigation sein.