gms | German Medical Science

19. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

30.09. - 01.10.2020, digital

Menschen ohne Lautsprache eine Stimme geben: Methodisches Vorgehen bei Interviews mit unterstützt Kommunizierenden in der Versorgungsforschung

Meeting Abstract

  • Anna Zinkevich - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland
  • Sarah A. K. Uthoff - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland
  • Ann-Kathrin Löhr - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland
  • Helge Schnack - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland
  • Carolin Garbe - Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Department Heilpädagogik und Rehabilitation, Köln, Deutschland
  • Kathrin Lemler - Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Department Heilpädagogik und Rehabilitation, Köln, Deutschland
  • Lena Ansmann - TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., Berlin, Deutschland

19. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). sine loco [digital], 30.09.-01.10.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc20dkvf150

doi: 10.3205/20dkvf150, urn:nbn:de:0183-20dkvf1502

Published: September 25, 2020

© 2020 Zinkevich et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Outline

Text

Hintergrund und Stand (inter)nationaler Forschung: Die Erhebung von individuellen Bedarfen und Bedürfnissen in qualitativen Interviews ist ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Versorgungsqualität. Wie ist jedoch vorzugehen, wenn die Interaktion zwischen interviewter und interviewender Person nicht in gewohnter Weise möglich ist, da die interviewte Person über keine Lautsprache verfügt? Menschen ohne Lautsprache haben komplexe Kommunikationsbedürfnisse und sind auf Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation (UK) angewiesen wie z.B. Symbolkarten oder Sprachcomputer. Aufgrund methodischer Barrieren werden Menschen ohne Lautsprache nur selten zu ihrer Versorgung befragt.

Zielsetzung: Methodenreflexion zur Durchführung von qualitativen Einzelinterviews mit Menschen ohne Lautsprache, die Hilfsmittel der UK verwenden.

Methode: Es wurden n=8 leitfadengestützte Interviews mit erwachsenen Menschen ohne Lautsprache mit unterschiedlichen körperlichen, kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen durchgeführt. Die Interviews wurden mit Symbolkarten, Sprachcomputern, Gebärden bzw. der Hilfe einer Assistenzperson durchgeführt. Begleitend wurde jeweils ein ausführliches Beobachtungsprotokoll erstellt.

Ergebnisse: Das methodische Vorgehen musste in jedem Interview individuell an die Fähigkeiten der Person angepasst werden. Oftmals konnte nicht auf eine Kommunikationsform zurückgegriffen werden, sondern es wurden verschiedene Formen miteinander kombiniert. Somit wurden bei Interviewten, die mit einem Sprachcomputer kommunizierten, häufig begleitend Symbolkarten eingesetzt. Im Falle von lautsprachlichen Antworten konnten Assistenzpersonen sowie das Rückversichern über Symbolkarten beim Verständnis helfen.

Diskussion: Die Interviews zeigen deutlich, dass die Interviewmethode nicht nur von den kommunikativen Fähigkeiten, sondern auch stark von der jeweiligen Tagesverfassung der Interviewten abhängt. Aus diesem Grund erwies es sich als schwierig, eine vorab überlegte Kommunikationsform umzusetzen. Die Interviewten wählten spontan die aus ihrer Sicht effizienteste Kommunikationsform und antworteten oft mit ihrer restlichen Lautsprache bzw. nonverbal. In diesen Fällen stellte sich die Anwesenheit einer Assistenzperson als hilfreich heraus. Die explorative Untersuchung zeigt, dass diese Interviewform eine*n Interviewer*in erfordert, der/die zumindest basale Kenntnisse mehrerer Kommunikationsformen beherrscht (z.B. Symbolkarten, Gebärden) und fähig ist, auf spontane Wechsel der Kommunikationsform adäquat zu reagieren.

Praktische Implikationen: Bei Interviews mit Menschen ohne Lautsprache ist es essenziell, sich individuell auf die Bedürfnisse der Interviewten einzustellen und sie die Kommunikationsform wählen zu lassen. Das Angebot von Symbolkarten sowie das situative Verwenden von Ja/Nein-Fragen erwies sich insgesamt als effektiv. Partizipative qualitative Forschung ist bei adäquater Vorbereitung mit Menschen ohne Lautsprache möglich und sollte in der Forschung häufiger Verwendung finden. Diese Untersuchung liefert erste Anhaltspunkte dafür, wie solch eine partizipative Forschung umgesetzt werden kann.