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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Darmkrebsfrüherkennung in Deutschland: Quantifizierung der Fehlversorgung durch zu frühe Kontroll-Koloskopien auf Basis von GKV-Routinedaten

Meeting Abstract

  • Dirk Horenkamp-Sonntag - Techniker Krankenkasse, Versorgungsmanagement, Hamburg, Germany
  • Christoph Skupnik - Techniker Krankenkasse, Versorgungsmanagement, Hamburg, Germany
  • Judith Liebentraut - Techniker Krankenkasse, Versorgungsmanagement, Hamburg, Germany
  • Susanne Engel - Techniker Krankenkasse, Versorgungsmanagement, Hamburg, Germany
  • Herbert Koop - Helios Klinikum Berlin-Buch, ehem. Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Gastroenterologie, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf451

doi: 10.3205/19dkvf451, urn:nbn:de:0183-19dkvf4513

Published: October 2, 2019

© 2019 Horenkamp-Sonntag et al.
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Text

Hintergrund: In Deutschland erkranken pro Jahr rund 64.000 Menschen erstmalig an Darmkrebs, ca. 26.000 sterben pro Jahr daran. 210.000 Patienten leben mit einer bis zu fünf Jahre zurückliegenden Darmkrebsdiagnose.

Durch Vorsorgeuntersuchungen wie die Koloskopie können gutartige Vorstufen von Darmkrebs (Polyen) erkannt und direkt entfernt werden. Daher kann die Darmkrebsentstehung durch rechtzeitige Vorsorgeuntersuchungen drastisch vermindert werden. Seit 2002 ist die Früherkennungskoloskopie, auf die ca. 20 Mio. Versicherte Anspruch haben, Bestandteil des GKV-Leistungskatalogs.

Etwa bei der Hälfte der Männer und einem Drittel der Frauen, die zur Darmspiegelung gehen, werden Polypen gefunden. Wenn nur ein einzelner, kleiner und unauffälliger Polyp entdeckt wird, besteht erst nach 10 Jahren ein erneuter Anspruch auf eine (Kontroll-) Koloskopie. Wurde hingegen ein auffälliger oder größerer Polyp entdeckt oder wurden mehr als drei Polypen entfernt, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass in den nächsten Jahren weitere Polypen entstehen. Deshalb wird dann die nächste Koloskopie bereits nach 3–5 Jahren empfohlen (3 Jahre nach fortgeschrittenem Adenom, 5 Jahre nach nicht-fortgeschrittenem Adenom).

Andererseits legen Untersuchungen nahe, dass eine wiederholte Inanspruchnahme von Koloskopien stattfindet, die oft über den medizinischen Bedarf hinausgeht. Hier zeigt sich einerseits, dass Kontroll-Koloskopien, die innerhalb von 3 Jahren nach der initialen Koloskopie durchgeführt wurden, auf Personen entfallen, deren initialer Befund zu dem Zeitpunkt keine Kontrolle erforderte. Umgekehrt gibt es Hinweise, dass bei Personen mit erhöhtem Risiko keine Kontroll-Koloskopie durchgeführt wird.

Fragestellung: Es wurde die Fehlversorgung hinsichtlich zu früher Kontroll-Koloskopien analysiert. Hierzu wurde der Frage nachgegangen, inwiefern Kontroll-Koloskopien bei der Darmkrebsfrüherkennung über den medizinischen Bedarf hinausgehen, d.h. zu früh nach dem Befund der initialen Koloskopie erfolgen.

Methodik: Datenbasis sind sektorenübergreifende TK-Routinedaten im Zeitraum 2014–2018, in denen ein Ausgangskollektiv von 1,26 Mio. Versicherten mit einer Koloskopie identifiziert wurde. Dieses wurde dann so zugeschnitten, indem auf die Durchführung der Erstkoloskopie in 2016 (d.h. 2 Jahre vorher war keine Koloskopie erfolgt) in Verbindung mit spezifischen Leistungen (EBM-GOP und ICD-Codes) für die Darmkrebsfrüherkennung fokussiert wurde (n=71.070). Dieses Kollektiv wurde in Versicherte mit einer Koloskopie (n=67.780) und Versicherte mit mehreren Koloskopien geteilt (n=3.290). Alle Koloskopien, die in einem Zeitraum von 6 Monaten nach der Erstkoloskopie erfolgten, wurden zur Erstkoloskopie dazu gezählt. Bei der Subgruppe der Versicherten mit mehr als einer Koloskopie wurde untersucht, aus welchem Grund die Kontrollkoloskopie erfolgte bzw. bei welcher Anwendungsindikationen die Re-Endoskopie durchgeführt worden ist.

Ergebnisse: Bei n=2.747 Versicherten (83,5%) mit einer Koloskopie innerhalb von zwei Jahren nach Erstkoloskopie ließ sich in den Abrechnungsdaten (mind.) eine medizinische Indikation zuordnen. Dabei ist der Großteil auf Adenome und Polypen (42,7%) und Polypektomien (21,0%) zurückzuführen. Die anderen Indikationen verteilen sich auf unterschiedlich (kleinere) Krankheitsentitäten: u.a. 3,4% Leistungen der Krebsfrüherkennung (u.a. GOP 01741), 5,6% gastro-intestinale Blutung (u.a. ICD D62 als akute Blutungsanämie), 4,6% abdominelle Operationen, 2,% Morbus Chron / Colitis ulcerosa, 3,7% sonstige nichtinfektiöse Gastroenteritiden und Kolitiden, 3,1% Reizdarmsyndrom (ICD K58), 2,0% im Zusammenhang mit medizinischen Komplikationen (u.a. Peritonitis) und 1,2% Darminfektionen (u.a. Salmonelleninfektionen).

Diskussion: Obwohl wir eine Karenzzeit von 6 Monaten nach Erstkoloskopie berücksichtigt haben, existiert eine relevante Anzahl von Kontroll-Koloskopien, die nach Abgleich mit potentiellen Anwendungsindikationen über den medizinischen Bedarf hinauszugehen scheinen (Überversorgung).

Grundsätzlich kann man mit GKV-Routinedaten sämtliche Ereignisse im Zeitverlauf erfassen, die mit medizinischen Leistungsinanspruchnahmen einhergehen. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass aufgrund unzureichender Detaillierungen von ICD-Diagnosen oft die Trennung zwischen Ursache und Wirkung im Leistungsverlauf nicht immer eindeutig möglich ist. Die exakte zeitliche Abfolge der erforderlichen klinischen Informationen findet sich in den Abrechnungsdaten des klinischen Behandlungsfalls zum Teil nur eingeschränkt wieder.

Praktische Implikationen: GKV-Routinedaten sind geeignet, Fehlversorgung durch zu frühe Kontroll-Koloskopien in der Versorgungsrealität zu quantifizieren. Vor der vertieften Interpretation dieser Ergebnisse sind aber noch weitere methodische Differenzierungen i.S. von Homogenisierung der Indikationen und Spezifizierung der Operationalisierung zu leisten.