gms | German Medical Science

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Versorgung von Notaufnahmepatient*innen mit kardialen Beschwerden bei psychischer Komorbidität: Die Ärzt*innenperspektive

Meeting Abstract

  • Martina Schmiedhofer - Charité Universitätsmedizin Berlin, Notfall- und Akutmedizin, Berlin, Germany
  • Sarah Oslislo - Charité-Universitätsmedizin Berlin, Institut für Allgemeinmedizin, Berlin, Germany
  • Anna Schneider - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin, Germany
  • Stella Linnea Kuhlmann - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Notfall- und Akutmedizin, Berlin, Germany
  • Andrea Figura - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik, Berlin, Germany
  • Martin Möckel - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Notfall- und Akutmedizin, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf394

doi: 10.3205/19dkvf394, urn:nbn:de:0183-19dkvf3949

Published: October 2, 2019

© 2019 Schmiedhofer et al.
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Text

Hintergrund: Mental Health Conditions (Depression, Angsterkrankung, Somatoforme Störung, Substanzmissbrauch (MHC)) bei kardialen Erkrankungen sind unterdiagnostiziert und haben einen signifikanten Einfluss auf den Krankheitsverlauf, die Therapieadhärenz und die Lebensqualität. Sie tragen zur häufigen Inanspruchnahme medizinischer Versorgung bei. In Notaufnahmen stellt diese Patient*innengruppe eine besondere Herausforderung dar, da mögliche lebensbedrohliche Zustände die durchgeführte Diagnostik bestimmen, während für die Berücksichtigung psychischer Erkrankungen Behandlungsressourcen regelhaft nicht zur Verfügung stehen. Der Behandlungserfolg dieser Patient*innengruppe in Notaufnahmen ist kaum untersucht. Um Fehlversorgungen zu vermeiden, sind mehr Informationen über diese Patient*innengruppe erforderlich.

Methoden: Im Rahmen eines Verbundforschungsprojektes acht großstädtischer Notaufnahmen wurden 644 Patient*innen mit kardialen Beschwerden standardisiert zu psychischen Begleitsymptomen gescreent sowie zu Nutzungsverhalten des Gesundheitswesens und Zufriedenheit befragt. Die Ergebnisse weisen auf eine MHC-Prävalenz von ca. 30 Prozent hin. Eine eingebettete qualitative Patientenbefragung (N=20) macht die Notaufnahme als „Rettungsort“ sichtbar, der häufig parallel zur ambulanten Versorgung angesteuert wird. Sechs Notaufnahmeärzt*innen aus den forschungsbeteiligten Kliniken haben in einer Fokusgruppe über diese Ergebnisse aus der Perspektive professioneller Herausforderungen und möglicher Versorgungsoptimierung diskutiert.

Ergebnisse:

  • Für alle beteiligten Ärzt*innen sind Patient*innen mit kardialen Symptomen, bei denen ein akutes kardiales Ereignis ausgeschlossen werden kann, eine vertraute Gruppe. Nach Übermittlung des Ergebnisses kann sich bei den Ärzt*innen ein Gefühl der Enttäuschung einstellen, da die Erwartung der/des Patient*in nach einer die Beschwerden erklärenden Diagnose nicht erfüllt wurde. Zudem ist nicht auszuschließen, dass zeitnah eine andere Notaufnahme mit demselben Anliegen aufgesucht wird.
  • Bei Frequent Usern („Doktorshopping“) können die regelmäßigen körperlichen Untersuchungen zur Verfestigung einer psychosomatischen Problematik beitragen.
  • Die Adressierung möglicher psychischer Ursachen im Entlassungsgespräch oder bereits bei der Anamnese würde zu einem nachhaltigen Behandlungsergebnis beitragen. Ggfs. sollte ein ambulanter Termin zur weiteren Abklärung bei einem niedergelassenen Arzt/Ärztin oder der Psychosomatik vermittelt werden.
  • Die Thematisierung psychischer Ursachen erfordert jedoch ein stabiles Zeitkontingent, das im Notaufnahmesetting nicht regelhaft vorgesehen ist.
  • Es wird eingebracht, dass nach kardialen Geschehen das Risiko einer Angststörung steigt, das idealerweise im Rahmen der ambulanten Behandlung bzw. bei der Anschlussheilbehandlung adressiert werden müsste.
  • Die Kontaktaufnahme mit ambulant behandelnden Ärzt*innen während des Notaufnahmeaufenthaltes wird als hilfreich beschrieben, um die Patient*innen besser zu verstehen. Die Erreichbarkeit niedergelassener Ärzt*innen ist jedoch auf Sprechstundenzeiten limitiert.
  • Ein elektronischer Zugriff auf vorherige Diagnostiken und Arztkontakte könnte weitere Untersuchungen vermeiden und zugleich den Patient*innen signalisieren, dass ihre Behandler*innen sich vernetzen und miteinander kommunizieren.
  • Die dadurch möglicherweise eingesparte Zeit für diagnostische Untersuchungen stünde zur Bearbeitung der zugrundeliegenden MHC zur Verfügung.
  • Die Investition in ein umfassendes Entlassungsgespräch würde zu einem besseren Behandlungsergebnis beitragen. Wenn die Bewältigung der MHC dadurch seitens der Patient*innen einsetzen würde, könnten weitere Notaufnahmebesuche verhindert werden.
  • Zeit ist ein in der Notaufnahmebehandlung sehr stark limitierender Faktor, der eine angemessene Befassung mit dem Patient*innenbedarf oft nicht zulässt. Daraus leitet sich der Wunsch nach Bereitstellung ausreichender Ressourcen ab.

Diskussion: Der Behandlungsauftrag in einem Notaufnahmesetting ist fokussiert auf eine körperliche Untersuchung. Die Überfüllung der Notaufnahmen erfordert eine Priorisierung auf den Ausschluss akuter gesundheitlicher Probleme. Für eine umfassende Berücksichtigung von MHC stehen derzeit keine Ressourcen bereit. Um zu einer anhaltenden Besserung des gesundheitlichen Zustandes beizutragen, benötigen Notaufnahmen sowohl die zeitlichen Ressourcen als auch die diagnostischen Kompetenzen zur Adressierung von MHC.