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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Übergewichtsprävention durch niedergelassene Kinderärzte – eine qualitative Interviewstudie zur ärztlichen Sichtweise auf die Umsetzbarkeit von ernährungsbezogener Prävention in der Praxis

Meeting Abstract

  • Janina Curbach - Universität Regensburg, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin, Medizinische Soziologie, Regensburg, Germany
  • Susanne Brandstetter - Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Regensburg, (KUNO-Kliniken), Regensburg, Germany
  • Maria Strohmeier - Universität Regensburg, Fakultät für Medizin, Regensburg, Germany
  • Berit Warrelmann - Landesvereinigung für Gesundheit Bremen e.V., Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit, Bremen, Germany
  • Julika Loss - Universität Regensburg, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin, Medizinische Soziologie, Regensburg, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf219

doi: 10.3205/19dkvf219, urn:nbn:de:0183-19dkvf2190

Published: October 2, 2019

© 2019 Curbach et al.
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Text

Hintergrund: Übergewicht und Adipositas in der Kindheit erhöhen das Risiko für spätere chronische Erkrankungen, wie z.B. Diabetes mellitus. Pädiater können in der Prävention von Übergewicht bei Kindern eine wichtige Rolle als Multiplikatoren und Umsetzungspartner spielen, indem sie z.B. die Gewichtsentwicklung überwachen, Eltern und ihre Kinder nach ihren Ernährungsgewohnheiten fragen und Empfehlungen für gesunde Ernährung weitergeben. Bislang gibt es noch keine Studien zur Sichtweise von deutschen Pädiatern auf die Umsetzung von ernährungsbezogener Übergewichtsprävention in der ambulanten Versorgung.

Fragestellung: Ziel der Studie war zu explorieren,

  • ob und wie Pädiater präventive Ernährungsberatung für Kinder in ihrer Praxis durchführen,
  • welche Sichtweisen, Einstellungen und Verbesserungswünsche niedergelassene Pädiater zur Umsetzung von präventiver Ernährungsberatung für Kinder haben,
  • und welche Barrieren sie wahrnehmen.

Methode: In einer explorativen, qualitativen Interviewstudie wurden 17 niedergelassene Pädiater (m=14, w=3, Praxiserfahrung: 1-35 Jahre, Alter: 27-64 Jahre) im Raum Ostbayern in semi-standardisierten Leitfadeninterviews befragt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und verbatim transkribiert. Die Daten wurden mithilfe von computergestützter qualitativer Datenanalyse (Atlas.ti) inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse: Alle befragten Pädiater fühlen sich zuständig für Ernährungsberatung und Übergewichtsprävention und führen diese routinemäßig im Rahmen von Früherkennung und bei Auffälligkeiten in der Gewichtsentwicklung durch. Bei auftauchender Übergewichtsproblematik würden die Befragten eine Beratung gerne intensiver umsetzen, fast alle äußern aber, dass verschiedene Barrieren das verhindern:

Als strukturelle Barrieren im Versorgungssystem nannten die Befragten ein zu großes Patientenvolumen und mangelnde Vergütung, fehlendes anschaulich-alltagstaugliches Informationsmaterial, mangelnde (Information über) Anlaufstellen zur Weitervermittlung von Patienten („flächendeckende Versorgung“) und zu wenig Vernetzung mit den Lebenswelten der Kinder (Schulen, Kindergärten). Die Befragten berichten zudem von arztbezogene Barrieren, insbesondere von Frustration/Resignation aufgrund fehlender Kompetenz der Eltern zur Umsetzung von Ernährungsempfehlungen und aufgrund des Gegendrucks durch ernährungsbezogene Glaubenssätze („Das Kind ist gesund, wenn es viel isst“) und durch schlechte Ernährungsbedingungen in der Lebenswelt der Kinder (Kitas, Schulen, Werbung/Industrie). Diese und andere Faktoren bedingen bei vielen auch eine Skepsis in Bezug auf die Wirksamkeit der Beratung. Mehrere Ärzte betonen einen eigenen Kompetenzmangel zu Ernährungsthemen („Ich kann nicht kochen“) und zu Methodenwissen für die Umsetzung einer effektiven Beratung – sowie die Sorge, Patienten zu verlieren („Thema ist unangenehm/angstbesetzt bei Patienten“). Patientenbezogene Barrieren für eine Umsetzung von Beratung sind aus Sicht der Ärzte v.a. die schwere Erreichbarkeit von Eltern aufgrund von mangelndem Problembewusstsein („Beratungsresistenz“) und aufgrund schwieriger Lebensverhältnisse (niedriger SES und/oder Migrationshintergrund). Auch eine patientenseitige Verunsicherung angesichts vieler, z.T. widersprüchlicher Informationsquellen (Hebammen, „Dr. Google“ etc.) wird als hinderlich für die Beratung empfunden.

Trotz dieser Barrieren engagieren sich einzelne Befragte auffallend stark in der ernährungsbezogenen Übergewichtsprävention. Diese betonen, dass sie ihre Motivation aus Erfolgserlebnissen bei Einzelfällen ziehen. Alle Befragten berichten, dass sie ihre Kompetenzen (Ernährungswissen sowie Wissen um Umsetzungsmethoden zur Beratung) fast ausschließlich aus dem privaten Interessensbereich, kollegialem Austausch und ambulanter Berufserfahrung beziehen, und nicht aus ihrer professionellen Aus- und Fortbildung.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass die Ärzte sich gerne intensiver in der ernährungsbezogenen Prävention engagieren würden und dass sie zu ihrer Unterstützung eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten sehen, wie z.B. eine gezielte ärztliche Aus- und Fortbildung zu Methoden der Präventionsberatung (auch bei schwierigen Patientengruppen); anschauliches Informationsmaterial; mehr (Information über) Anlaufstellen zur Überweisung von übergewichtigen Patienten; eine bessere Vergütung und eine gezieltere Vernetzung und Kooperation aller beteiligten Akteure (Schulen und Kindergärten).

Praktische Implikationen: Um die Motivation, den Glauben an die Wirksamkeit ihrer Beratung und die wahrgenommene eigene Kompetenz zu stärken, müssten Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Ärztlicher Prävention und Evidenz zu effektiven Beratungsmethoden an die Ärzte vermittelt werden.