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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung durch Kinder und Jugendliche in Deutschland – Ergebnisse der KiGGS-Studie

Meeting Abstract

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  • Stefanie Seeling - Robert Koch-Institut, Berlin, Germany
  • Franziska Prütz - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf218

doi: 10.3205/19dkvf218, urn:nbn:de:0183-19dkvf2184

Published: October 2, 2019

© 2019 Seeling et al.
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Hintergrund: Fehlstellungen der Zähne und des Kiefers können in Deutschland durch kieferorthopädische Behandlung zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung korrigiert werden, wenn erhebliche Funktionsstörungen bestehen oder verhindert werden sollen. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung weist rund 7,9 Millionen kieferorthopädische Behandlungsfälle für das Jahr 2017 aus. Im selben Jahr lagen die Gesamtausgaben für Kieferorthopädie in der Gesetzlichen Krankenversicherung bei circa 1,2 Milliarden Euro und in der Privaten Krankenversicherung bei 284,4 Millionen Euro; hinzu kommen Selbstzahlerleistungen. Aktuell wird der medizinische Nutzen von kieferorthopädischen Behandlungen stark diskutiert. Das Bundesministerium für Gesundheit hat ein Gutachten zu kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen in Auftrag gegeben, das seit November 2018 vorliegt und als Grundlage für die Diskussion weiteren Forschungsbedarfs mit den beteiligten Akteuren und für die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen herangezogen werden soll.

Fragestellung:

  • Wie viele Kinder und Jugendliche befinden sich in kieferorthopädischer Behandlung?
  • Wie hat sich die Prävalenz der Inanspruchnahme seit der KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) entwickelt?
  • Welchen Einfluss haben Geschlecht, Alter und sozioökonomischer Status auf die Inanspruchnahme?

Methode: Die Analysen basieren auf Daten der KiGGS-Studie, die wiederholt durchgeführte, für Deutschland repräsentative Querschnitterhebungen bei Kindern und Jugendlichen beinhaltet und Bestandteil des Gesundheitsmonitorings am Robert Koch-Institut ist. Die KiGGS-Basiserhebung (2003 – 2006) und KiGGS Welle 2 (2014–2017) wurden als kombinierte Untersuchungs- und Befragungssurveys durchgeführt, KiGGS Welle 1 als telefonischer Befragungssurvey (2009–2012). Auf der Basis von Selbstangaben von 6.425 Mädchen und 6.310 Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren aus KiGGS Welle 2 wurde die Prävalenz der Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung untersucht, stratifiziert nach Geschlecht, Alter und sozioökonomischem Status. Trendauswertungen wurden für den Altersbereich von 7 bis 17 Jahren mit Daten der KiGGS-Basiserhebung und KiGGS Welle 1 vorgenommen (univariable logistische Regression auf der Basis altersstandardisierter Prävalenzen).

Ergebnisse: Die Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung steigt mit zunehmendem Alter kontinuierlich an. Am höchsten ist sie bei Mädchen im Alter von 13 Jahren (55,0 %) und bei Jungen im Alter von 14 Jahren (50,8 %), danach sinken die Prävalenzen ab. Insgesamt werden 25,8 % der Mädchen und 21,1 % der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren kieferorthopädisch versorgt. In absoluten Zahlen kann geschätzt werden, dass sich knapp zweieinhalb Millionen Kinder und Jugendliche in kieferorthopädischer Behandlung befinden.

Ab dem Alter von 7 Jahren sind in allen Altersgruppen statistisch signifikant mehr Mädchen in kieferorthopädischer Behandlung als Jungen. Mädchen und Jungen, die in Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (SES) aufwachsen, nehmen signifikant seltener Behandlung in Anspruch als Mädchen mit mittlerem SES und Jungen mit mittlerem und hohem SES.

Im Vergleich mit Daten bisheriger KiGGS-Erhebungen stellt sich für 7- bis 17-Jährige im Trend über etwa zehn Jahre eine signifikante Zunahme der kieferorthopädischen Inanspruchnahme dar (KiGGS-Basiserhebung: 22,0 %; KiGGS Welle 1: 28,0 %; KiGGS Welle 2: 31,1 %).

Diskussion: Die Prävalenzen und Trends der Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung aus KiGGS lassen sich mit der Statistik zu Behandlungsfällen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung in Einklang bringen. Die Ergebnisse zu Unterschieden nach Alter und Geschlecht fügen sich in den aktuellen Forschungsstand ein. Dass Heranwachsende aus Familien mit niedrigem SES seltener kieferorthopädisch behandelt werden, spiegelt dabei nicht den tatsächlichen Bedarf wider.

Die Ergebnisse der KiGGS-Studie leisten einen Beitrag zur aktuellen Diskussion, indem eine belastbare Datengrundlage zur Prävalenz und zeitlichen Entwicklung der Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung vorgelegt wird. Die Daten aus der Perspektive der Eltern beziehungsweise der Kinder und Jugendlichen ab elf Jahren selbst stellen wichtige Informationen zum Versorgungsgeschehen über Abrechnungsdaten hinaus dar, da sie u. a. die Verknüpfung mit soziodemografischen Einflussfaktoren ermöglichen.

Praktische Implikationen: Nach den Ergebnissen der KiGGS-Studie wird ein hoher Anteil der Kinder und Jugendlichen kieferorthopädisch versorgt. Vor dem Hintergrund der lückenhaften Studienlage und der unterschiedlichen Interessenlagen wird ein Diskurs unter ethischen Gesichtspunkten angeregt. Dabei sollte auch eine langfristige Nutzen-Risiko-Abwägung der aktuellen kieferorthopädischen Behandlungspraxis thematisiert werden, gestützt durch die Ergebnisse einer intensivierten Versorgungsforschung.