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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Bedürfnis- und Bedarfsgerechtigkeit der häuslichen, pflegerischen Versorgung bei Nutzenden eines sektorenverbindenden Versorgungsansatzes im Quartier

Meeting Abstract

  • Ina Hartwig - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, AG Versorgungsinterventionen, Witten, Germany
  • Anne Bleckmann - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, AG Versorgungsstrukturen, Witten, Germany
  • Bernhard Albers - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, AG Methoden in der Versorgungsforschung, Witten, Germany
  • Margareta Halek - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, AG Versorgungsinterventionen, Witten, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf181

doi: 10.3205/19dkvf181, urn:nbn:de:0183-19dkvf1815

Published: October 2, 2019

© 2019 Hartwig et al.
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Outline

Text

Hintergrund: Das Gesundheitssystem sieht sich zunehmend mit einer steigenden Anzahl von hilfs- und pflegebedürftigen Menschen konfrontiert. Im Jahre 2013 lebten ca. 2,6 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland. Prognosen zufolge wird sich diese Zahl bis zum Jahre 2030 um 50% erhöhen. Die meisten über 65-jährigen Menschen mit Unterstützungsbedarf wohnen in der Häuslichkeit (93%) und werden von Familienangehörigen bei der Bewältigung von Alltagstätigkeiten unterstützt. Obwohl im Bereich der ambulanten Versorgung bereits diverse Angebote zur Unterstützung im Alltag vorhanden sind, werden diese häufig von der Zielgruppe z.B. aufgrund fehlender Passgenauigkeit nicht in Anspruch genommen, während es an anderen Stellen zu einer Fehl- bzw. Überversorgung kommt.

Im Rahmen eines Modellprojektes in NRW hat ein Träger der stationären Altenhilfe ein so genanntes Gesamtversorgungskonzept (GVK) gem. §72 SGB XI in vier Quartieren erprobt. Ziel des Modellprojektes war es, eine fußläufig organisierte pflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung der Nutzenden im Nahraum der stationären Einrichtung zu konzipieren, welche die Verzahnung von ambulanten, teilstationären und vollstationären Leistungen aus einer Hand ermöglicht. Die Überwindung der Schnittstellen sollte mit Hilfe des bestehenden Personals aus der stationären Altenhilfe sichergestellt werden. Kern des Konzeptes ist die individuelle, auf einem Case Management-Prozess basierende Planung der Versorgung. Begleitet wurde dieses Modellprojekt durch eine wissenschaftliche, multiperspektivische Evaluation, die u.a. die Einschätzung der Nutzenden in den Blick nahm.

Fragestellung: Wie schätzen die Nutzenden und ihre pflegenden Angehörigen die Bedarfs- und Bedürfnisgerechtigkeit des Gesamtversorgungskonzeptes ein?

Methode: Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden folgende methodische Vorgehensweisen im Sinne eines Mixed-Method-Design kombiniert:

1.
Standardisierte Befragung der Nutzenden und ihrer Angehörigen mithilfe quantitativer Assessmentinstrumente zu drei Befragungszeitpunkten über einen Zeitraum von 1,5 Jahren. Die Auswertung erfolgte mittels querschnittlicher, deskriptiver statistischer Analysen.
2.
Qualitative Befragung eines Subsamples (n=13 Versorgungsarrangements) mittels episodischer Interviews zu drei Befragungszeitpunkten über einen Zeitraum von 1,5 Jahren. Die Analyse der qualitativen Interviews wurde in Anlehnung an das Thematische Kodieren nach Flick (2016) durchgeführt.

Abschließend erfolgte die Synthese der Ergebnisse aus beiden Methodensträngen.

Ergebnisse: In den Stichproben werden sehr heterogene Bedürfnisse und Bedarfe geäußert. Diese variieren vom Bedürfnis nach Spiritualität bis zum Bedarf nach weiteren Geschäften im Quartier. Das GVK wird von den Versorgungsarrangements größtenteils als zufriedenstellend sowie bedürfnis- und bedarfsgerecht erlebt. Während in leichten Versorgungsfällen Bedürfnisse im Bereich der Gesundheitsprävention vorherrschen, liegt der Fokus in komplexeren Fällen auf der Unterstützung im Alltag sowie der Aufrechterhaltung von Teilhabe. Pflegende Angehörige hingegen äußern oft das Bedürfnis nach Sicherheit sowie den Bedarf nach Unterstützung im Not- und Bedarfsfall. Insbesondere Angehörige in komplexen Versorgungsarrangements nennen zudem vermehrt das Bedürfnis nach Entlastung. Kritik äußern Nutzende dahingehend, dass in der Betrachtung individueller Lebenssituationen „passgenauere“ Angebote gewünscht werden, z.B. dass Inhalt und Zeitpunkt der vereinbarten Leistungen flexibler verändert werden können.

Diskussion: Der Wunsch nach einer höheren Passgenauigkeit der Angebote legt den Schluss nahe, dass erforderliche und benötigte Leistungen zwar erbracht werden, diese aber nicht zur Gänze den individuellen Präferenzen entsprechen. Der erste Schritt, diesem Wunsch nach Passgenauigkeit entgegenzukommen, ist die Identifizierung expliziter und impliziter Bedürfnisse und Bedarfe z.B. in Form umfassender Assessments. Ergänzend können Schilderungen und Beobachtungen von Alltagssituationen helfen, Wünsche und Probleme der Betroffenen zu erkennen.

Praktische Implikationen: Die wissenschaftliche Begleitung des Gesamtversorgungskonzeptes verdeutlicht die Komplexität der zu deckenden Bedarfe und Bedürfnisse der Nutzenden im Quartier. Um auch implizite Bedürfnisse zu identifizieren und das Gefühl einer höheren Passgenauigkeit zu erreichen, sollten Anbieter zugehende Strukturen schaffen und im Dialog mit den Nutzenden klären, inwiefern den jeweiligen Bedürfnissen und Bedarfen entsprochen werden kann. Ein funktionierendes Netzwerk von relevanten Akteuren im Quartier könnte hierbei die Grenzen des trägerspezifischen Leistungsspektrums auffangen. Langfristig könnten zudem Hinweise gegeben werden, inwiefern die eigene Angebotspalette der Weiterentwicklung bedarf.