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Gesundheitskompetenz in der medizinischen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund: Perspektiven von Behandelnden
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Published: | October 2, 2019 |
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Hintergrund: Gesundheitskompetenz bildet ein komplexes Gefüge aus individuellen Ressourcen und Fähigkeiten, situativen Faktoren und Umweltbedingungen, und den Anforderungen des Gesundheitssystems, in dem eine Person interagiert. Diese sozial-relationalen Prozesse kulminieren in der Behandlungssituation. Die gelungene Interaktion zwischen Behandelnden und Patient*innen ist demnach ein zentraler Bestandteil organisationaler und individueller Gesundheitskompetenz. Für Behandelnde kann die Interaktion mit Personen mit Migrationshintergrund aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren besonders herausfordernd sein; zusätzlich kann auch ihr eigener Migrationshintergrund eine wichtige Rolle dabei spielen.
Fragestellung: Ziel der Studie ist die Identifikation von Herausforderungen, Bedarfen und Lösungsansätzen in der Interaktion mit Menschen mit Migrationshintergrund im Behandlungssetting aus Sicht der Behandelnden. Insbesondere der Einfluss des Migrationshintergrundes von Patient*innen und Behandelnden sowie die Bewertung bereits angewendeter Strategien zum Umgang mit diesen Herausforderungen sind dabei von besonderem Interesse.
Methode: In fünf Fokusgruppendiskussionen mit Behandelnden aus dem Gesundheitswesen (n=30) wurden die Herausforderungen, Bedarfe und angewendeten Lösungsansätze in der Interaktion mit Männern und Frauen mit Migrationshintergrund diskutiert. Mittels selektiven Samplings wurden die Teilnehmer*innen rekrutiert. Einschlusskriterien waren eine professionelle Tätigkeit im Gesundheitswesen, mindestens zweijährige Berufserfahrung und regelmäßiger medizinisch-therapeutischer Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund. Der semi-strukturierte Leitfaden wurde in zwei Pretests überprüft und fortlaufend adaptiert. Die gewonnen Daten wurden in einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) ausgewertet. Eine unabhängige Kategorienbildung durch zwei Wissenschaftler*innen sowie die fortlaufende Adaption des im Prozess konsentierten Kategoriensystems gewährleistete die Intercoder-Reliabilität in der Datenanalyse. Divergente Interpretationen des Datenmaterials wurden durch Hinzuziehung einer dritten Wissenschaftlerin konsolidiert.
Vorläufige Ergebnisse: Sprachbarrieren, systemisch bedingter Zeitmangel und Unsicherheit im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund wurden als Hindernisse für eine gelungene Interaktion benannt. Insbesondere der Umgang mit der von Menschen mit Migrationshintergrund antizipierten Diskriminierung durch Akteur*innen des Gesundheitswesens wurde von den Behandelnden als herausfordernd erlebt. Einen eigenen Migrationshintergrund erlebten die Teilnehmer*innen dabei überwiegend als hilfreiche Zugangsmöglichkeit und förderlichen Faktor für ihre eigene Gesundheitskompetenz als Behandelnde. Als Schlüsselkomponenten für gelungene Interaktion mit und Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund wurden die gezielte Investition zeitlicher Ressourcen – auch über systemische Vorgaben hinaus – sowie die herkunftsunabhängige Würdigung aller Patient*innen als Individuen genannt. Als essentielle Hilfsmittel zur Überbrückung von Sprach- und Kulturbarrieren forderten die Teilnehmer*innen den abrechenbaren Einsatz von Videodolmetscher*innen und Sprach- und Kulturmittler*innen. Die Hinzuziehung von unbeteiligten Ärzt*innen oder Pfleger*innen mit Migrationshintergrund als Laiendolmetscher*innen in einer (stationären) Behandlungssituation wurde kritisch eingestuft, da sie aufgrund mangelnder Zeit für die eigentlichen Aufgaben oder Patient*innen mit erheblichen Belastungen verbunden sein können.
Diskussion: Aus Sicht der Behandelnden kann der Einsatz von Videodolmetscher*innen, Sprach- und Kulturmittler*innen dazu beitragen, die Gesundheitskompetenz im Sinne einer gelungenen Gestaltung der Behandlungssituation zu fördern. Ein geteilter Migrationshintergrund kann nicht nur Beziehungsgestaltung und Informationsvermittlung vereinfachen, sondern auch zu einer höheren Zufriedenheit von Behandelnden und Patient*innen mit Migrationshintergrund beitragen. Dahingegen kann der Einsatz von medizinischem Personal als Laiendolmetscher*innen die allgemeine Zeitknappheit und Belastungssituation im Gesundheitswesen verschärfen. Hierbei handelt es sich um Zwischenergebnisse der noch andauernden Datenanalyse. Diese spiegeln ambulante und stationäre Behandlungssituationen in einer deutschen Großstadt wider und sind somit nicht uneingeschränkt übertragbar.
Praktische Implikationen: Interventionen zur Überwindung der Sprachbarrieren sollten weiterentwickelt, evaluiert und deren Implementierung in die Regelversorgung kritisch geprüft werden. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, Behandelnde mit Migrationshintergrund außerhalb ihres eigentlichen Behandlungsauftrages als Dolmetscher*innen einzusetzen, sollten sie dafür freigestellt und entsprechend weitergebildet werden.
Anmerkung: Dieser Teilaspekt wurde im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts exploriert (FKZ: 01GL1723).