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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Systematische Qualitätsbewertung von Leitlinien als Grundlage für die Patientennavigation. Am Beispiel der Aphasie- und Dysarthriebehandlung nach Schlaganfall

Meeting Abstract

  • Daniel Schindel - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Lena Mandl - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Johannes Deutschbein - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Johann Frick - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin
  • Liane Schenk - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Berlin

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf343

doi: 10.3205/18dkvf343, urn:nbn:de:0183-18dkvf3433

Published: October 12, 2018

© 2018 Schindel et al.
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Text

Hintergrund: In einem hochkomplexen und fragmentierten Gesundheitssystem stellt die Navigation von Patienten eine der größten gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen dar. Medizinische und therapeutische Leitlinien liefern die Grundlage für die evidente Organisation der Versorgung und geben Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten und Patientinnen und Patienten Hilfen an die Hand. Parallel existierende Leitlinien von unterschiedlicher Qualität erschweren die Entscheidungsfindung in der Praxis, weshalb die systematische Evaluation bestehender Empfehlungen notwendig erscheint. Aphasie und Dysarthrie sind häufige Folgen eines Schlaganfalls, für deren Behandlung ebenfalls Leitlinien existieren. Deutschsprachige Leitlinien zur Behandlung von Aphasien und Dysarthrien wurden bisher keiner systematischen Qualitätsbeurteilung unterzogen.

Mithilfe von Leitlinien kann die Versorgung verbessert werden. Leitlinientreue in der Versorgung ist damit ein wichtiger Indikator für den Grad der Ausschöpfung von Versorgungspotentialen und den egalitären Zugang zu Gesundheitsleistungen. Analysen zur Leitlinientreue können somit wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung der Versorgung, durch z.B. Navigationsangebote, liefern.

Fragestellungen: Welche deutschsprachigen Leitlinien zur Behandlung von Aphasien und Dysarthrien nach Schlaganfall existieren und wie hoch ist deren Qualität? Werden in den Leitlinien Parameter benannt, mit deren Hilfe ihre Einhaltung anhand von Abrechnungsdaten gesetzlicher Krankenkassen überprüft werden können?

Methoden: Es wurde in Leitlinienverzeichnissen, Datenbanken sowie auf den Webseiten relevanter Fachgesellschaften nach Leitlinien zur Behandlung von Aphasien und Dysarthrien recherchiert. Anschließend wurden die eingeschlossenen Leitlinien mit dem Appraisal of Guidelines in Research and Evaluation II-Instrument (AGREE II) hinsichtlich ihrer Qualität beurteilt. In einem nächsten Schritt wurden konkrete Prüfparameter zur Diagnostik, Therapie und Medikation aus den Leitlinien extrahiert und konsentiert.

Ergebnisse: Es konnten sechs relevante deutschsprachige Leitlinien recherchiert werden. Die eingeschlossenen Leitlinien erzielten sehr heterogene Qualitätsbeurteilungen. Hohe Wertungen erreichte die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). In 3 von 6 Beurteilungsdomänen sowie der Gesamtbewertung erzielte sie die höchsten Punktzahlen. Hohe Wertungen erzielten die Leitlinien in den Bereichen „Redaktionelle Unabhängigkeit“ (höchster Wert 89/100 Pkt.) und „Genauigkeit der Leitlinienentwicklung“ (höchster Wert 80/100 Pkt.). In den Bereichen „Geltungsbereich und Zweck“ (höchster Wert 59/100 Pkt.) und der „Anwendbarkeit“ (höchster Wert 53/100 Pkt.) wurden die niedrigsten Werte erzielt. Jede der eingeschlossenen Leitlinien wurde mit Änderungen zur Anwendung empfohlen. In Umfang und Detaillierungsgrad der aufgeführten konkreten Empfehlungen unterscheiden sich die Leitlinien sehr stark.

Für die Prüfung von Leitlinientreue z.B. mithilfe von Abrechnungsdaten gesetzlicher Krankenversicherungen konnten geeignete Prüfparameter in den Bereichen Diagnostik, Hilfsmittel-, Heilmittel- und Arzneimittelverordnung identifiziert werden. Wichtige Prüfparameter sind Therapiebeginn, -dauer und -frequenz sowie die Therapieform, aber auch die Versorgung mit elektronischen Kommunikationshilfen oder Screenings auf Komorbiditäten.

Diskussion: Die vorliegenden Ergebnisse zeigen eine hohe Heterogenität der Leitlinien. In den Bewertungsdomänen „Geltungsbereich und Zweck“, „Anwendbarkeit“ und „Gesamtbewertung“ bleiben die Leitlinien unter dem in der Literatur beschriebenen Cut-Off-Wert für gute Leitlinien von 66/100 Punkten. Durch deutliches Ausweisen des zugrunde liegenden Gesamtziels sowie der adressierten Patientenpopulation, die Diskussion struktureller und finanzieller Auswirkung einer vollumfänglichen Umsetzung oder Implementierungsstrategien könnte die Qualität der Leitlinien - mit moderatem Ressourceneinsatz - deutlich erhöht werden. Weiter sind die vorliegenden Empfehlungen medizinisch dominiert. Eine stärkere Beteiligung von Therapeutinnen und Patientinnen scheint empfehlenswert. Leitlinienbeurteilungen sind für die Aktualisierung und Weiterentwicklung bestehender Leitlinien hilfreich. Das Benennen konkreter, evidenter Empfehlungen erleichtert zum einen Anwendern den Umgang mit den Leitlinien, zum anderen ermöglicht es eine regelhafte Überprüfung der Empfehlungen z.B. mit Hilfe von Sekundärdaten. Neue Versorgungsangebote - wie Navigationsmodelle - können passgenauer entwickelt werden.

Praktische Implikationen: Voraussetzung für die erfolgreiche Navigation sind qualitativ hochwertige Leitlinien die Ärztinnen, Therapeutinnen und Patientinnen eine Orientierung geben sowie konkrete Hinweise aus der Versorgung, wo Verbesserungspotentiale liegen und welche Patientengruppen zusätzliche Hilfen benötigen.