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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Wie wird allgemeine ambulante Palliativversorgung erlebt? – Ergebnisse aus Interviews mit Patienten, Angehörigen und Leistungserbringern nach der Critical Incident Technique

Meeting Abstract

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  • Helen Ewertowski - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover
  • Nils Schneider - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover
  • Stephanie Stiel - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf280

doi: 10.3205/18dkvf280, urn:nbn:de:0183-18dkvf2802

Published: October 12, 2018

© 2018 Ewertowski et al.
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Hintergrund: Nach einer anfänglichen Fokussierung auf spezialisierte Angebote der Palliativversorgung wird zunehmend die Integration der allgemeinen Palliativversorgung betont und durch politische Maßnahmen gestärkt (z.B. Hospiz- und Palliativgesetz). Nach aktuellem Forschungsstand haben 5 – 20 % aller schwerkranken und sterbenden Patienten Bedarf an spezialisierter Palliativversorgung. D.h. der Großteil aller unheilbar erkrankten Patienten kann durch Strukturen der allgemeinen Palliativversorgung angemessen versorgt werden, im ambulanten Bereich vor allem durch Hausärzte und Pflegedienste. In der Umsetzung der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung (AAPV) bestehen jedoch nach wie vor Probleme.

Fragestellung: Das übergeordnete Ziel des auf insgesamt 5 Jahre angelegten Projektes „Allgemeine ambulante Palliativversorgung in der hausärztlichen Praxis“ (ALLPRAX) (BMBF - FK01GY1610) ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Erbringung ambulanter Palliativversorgung durch Hausärzte. In der ersten Projektphase ist die forschungsleitende Frage: Welche fördernden bzw. hemmenden Faktoren beeinflussen die AAPV und welchen Einfluss haben diese Faktoren auf Leistungserbringung und Patientenoutcomes?

Methode: Von März bis August 2017 wurden 16 Interviews nach der Critical Incident Technique mit je 4 Patienten, Angehörigen, Hausärzten und je 2 Medizinischen Fachangestellten und Pflegekräften nach Kriterien basiertem, theoretischem Sampling erhoben. Interviewpartner wurden so ausgewählt, dass möglichst heterogene Merkmale hinsichtlich Geschlecht, Alter, ländlicher und städtischer Herkunft, Diagnose von Patienten, Arbeit in Einzel- bzw. Gemeinschaftspraxis von Ärzten und Erfahrung der Medizinischen Fachangestellten und Pflegekräften vorliegen.

Die Erhebungsmethode nach der ‘Critical Incident Technique‘ sieht vor, vom Interviewten je ein besonders positiv bzw. negativ erlebtes Versorgungsgeschehen beschreiben zu lassen. Die Beschreibung dieser beispielhaften Versorgungserfahrungen soll vier Aspekte integrieren: 1) das spezifische Geschehen, 2) das Verhalten aller Akteure, 3) den Kontext, und 4) die Konsequenzen des beschriebenen Verhaltens. Anhand dieser vier Aspekte wurde ein Interviewleitfaden mit primären Leitfragen und möglichen Nachfragen entwickelt. Die Auswertung der Interviews erfolgte mit Kodierverfahren nach Prinzipien der Grounded Theory von Strauss & Corbin.

Ergebnisse: Ein zentraler Faktor in der AAPV ist die Art und Weise der Leistungserbringung, die sich in fünf Kategorien unterteilen lässt.

1.
Hausarztzentrierte Versorgung (die Kernkompetenz Palliativversorgung wird beim Hausarzt mit seinem typischerweise ganzheitlichen, biopsychosozialen und familienorientierten Ansatz und der langfristigen Arzt-Patient-Beziehung gesehen, was bei Bedarf die Einbindung weiterer Expertisen (medizinisch, pflegerisch, psychosozial) integriert)
2.
Kontinuierliche Versorgung (z.B. wird mit einer langfristigen und sektorenübergreifenden Begleitung mehr gegenseitiges Vertrauen und Wissen in der Arzt-Patienten-Beziehung wahrgenommen, was mit einer erhöhten Akzeptanz von Versorgungsleistungen und -entscheidungen einhergehen kann)
3.
Koordinierte Versorgung (z.B. wird durch interprofessionelle Zusammenarbeit bei Leistungserbringern eine Entlastung erlebt sowie ein Wissenszuwachs in Bezug auf Bedürfnisse und Versorgungsverläufe von Patienten und Angehörigen beschrieben)
4.
Vorausschauende Versorgung (z.B. wird eine rechtzeitige Bereitstellung von Medikamenten als notwendig benannt und das Vorbereiten von Patienten und Angehörigen auf Symptome, Maßnahmen und das Sterben als wichtige Aufgabe gesehen)
5.
Fallorientierte Versorgung (zeigt sich z.B. in der Berücksichtigung des subjektiven Erlebens von Krankheit und Sterben und des Patientenwillens, an denen die individuelle Versorgung ausgerichtet wird)

Wird palliative Versorgung hausarztzentriert, kontinuierlich, koordiniert, vorausschauend und fallorientiert erbracht, so wird sie von allen Interviewpartnern als erfolgreich und adäquat erfahren. Ein Fehlen einer dieser Faktoren hingegen wird als hinderlich für eine angemessene AAPV erlebt.

Diskussion: Die identifizierten Determinanten stehen in engem Bezug zueinander. Die Ergebnisse bestärken, dass die Hausarztzentrierung ein wesentlicher Faktor für das Gelingen der AAPV ist. Die Determinanten für eine adäquate AAPV decken sich mit den grundlegenden Merkmalen von Hausarztmedizin wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin definiert werden, womit die zentrale hausärztliche Rolle in der Palliativversorgung untermauert wird.

Praktische Implikationen: In der kommenden Projektphase werden unter Einsatz partizipativer Forschungsmethoden gemeinsam mit Leistungserbringern bisherige Ergebnisse reflektiert. Diese Reflektion mündet in die Erarbeitung von praxisrelevanten, machbaren und tragfähigen Handlungskonzepten und -strategien zur Verbesserung von AAPV für eine strukturierte Intervention.