gms | German Medical Science

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Wie häufig kommen seltene Krebserkrankungen in Hamburg vor?

Meeting Abstract

Search Medline for

  • Annika Waldmann - Hamburgisches Krebsregister, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, Auswertungen, Hamburg
  • Alice Nennecke - Hamburgisches Krebsregister, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, Auswertungen, Hamburg

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf153

doi: 10.3205/18dkvf153, urn:nbn:de:0183-18dkvf1534

Published: October 12, 2018

© 2018 Waldmann et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Outline

Text

Hintergrund: Statistisch gesehen wird in Deutschland jede zweite Frau und jeder zweite Mann im Laufe des Lebens mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. In Hamburg machen die je drei häufigsten Lokalisationen (Brust / Prostata, Darm, Lunge) bei Frauen rund 52 % und bei Männern 45 % aller Krebserkrankungen aus. Die klinische Entscheidungsfindung für die Therapie wird in den meisten Fällen durch das Vorliegen evidenzbasierter Leitlinien, einer guten Studien- und Datenlage und einer vergleichsweise hohen klinischen Expertise und hoher Erfahrungswerte geleitet. Für die Vielzahl seltener Krebsarten gestaltet sich die Entscheidungsfindung im Einzelfall aufgrund der lückenhaften Informationsgrundlage schwieriger.

Fragestellung: Wie hoch ist die Inzidenz seltener Krebserkrankungen in Hamburg? Welche „Erkrankungsfamilien“ sind unter den seltenen Krebsarten vergleichsweise häufig?

Methode: RARECARENet ist ein Forschungsprojekt im Rahmen von EUROCARE-5, in dem Krebserkrankungen als selten definiert wurden, wenn sie innerhalb der Europäischen Union mit einer Häufigkeit von weniger als 6 Fällen pro 100.000 Einwohner auftreten. Im Rahmen des Projektes wurde eine Klassifikationsliste erstellt, die auf Basis von ICD-O-3 Topographie- und Morphologie-Kodes Krebserkrankungen als selten bzw. nicht-selten definiert. Die Liste umfasst 198 Subgruppen seltener Erkrankungen (auf Ebene 2; engl. „tier 2“), die zu 12 Gruppen (engl. „families“) zusammengefasst werden können. Datengrundlage waren im Hamburgischen Krebsregister dokumentierte Tumoren (ICD-10 C00-C97, ohne C44) aus den Diagnosejahre 2013 bis 2015 von Personen, die bei Diagnose in Hamburg wohnten. Ausgeschlossen wurden Tumoren mit unbekannter Primärlokalisation (ICD-O-3 Topographie: C80) und/oder unspezifischer Morphologie (ICD-O-3 Morphologie: 8000, 8001, 8010, 8800, 9800, 9590).

Das mediane Erkrankungsalter und die Inzidenz (absolut und altersstandardisiert, alter Europastandard) insgesamt sowie der häufigsten Gruppen seltener Krebserkrankungen wurden geschlechterdifferenziert ermittelt.

Ergebnisse: In der Hamburgischen Bevölkerung traten zuletzt jährlich rund 10.500 Krebsneuerkrankungen (ICD-10 C00-C97, ohne C44) auf. Von diesen waren etwa 1.290 im Register mit unbekannter Primärlokalisation und/oder unspezifischer Morphologie gemeldet und wurden von den Analysen ausgeschlossen.

Von den verbleibenden Krebsfällen fielen 30 % (n=2.760) in die Gruppe der seltenen Erkrankungen. Während sich die absoluten Fallzahlen bei Frauen und Männern kaum unterschieden, lagen die rohe und die altersstandardisierte Erkrankungsrate von Frauen (RR: 146,4/100.000; ASR[E]: 107,8/100.000) unterhalb der Raten der Männer (RR: 156,1/100.000; ASR[E]: 125,7/100.000). Das mediane Erkrankungsalter von Personen mit seltenen Krebserkrankungen lag bei 67 Jahren und damit 3 Jahre niedriger als bei Personen mit nicht-seltenem Tumor.

Die häufigsten Erkrankungsgruppen („families“) waren die hämatologischen Erkrankungen (relativer Anteil: 22 %), bösartige Neubildungen des Verdauungstraktes (18,5 %) und des weiblichen Genitaltraktes (16,5 %). Bei Frauen fielen seltene Krebserkrankungen am häufigsten in die Gruppe der bösartigen Neubildungen des weiblichen Genitaltraktes (32,5 %), der hämatologischen Erkrankungen (20 %) und der malignen Tumore des Verdauungstraktes (15 %). Bei den Männern waren hämatologische Erkrankungen (23,5 %), bösartige Neubildungen des Verdauungstraktes (22 %) und in der Kopf-Hals-Region (inkl. Auge, Ohr; 18 %) vorherrschend.

Auf Ebene der 198 Subgruppen traten die sechs je häufigsten vorkommenden Erkrankungen bei beiden Geschlechtern mit einer Häufigkeit von ca. 60-130 Fällen pro Jahr auf und machten etwa 40 % aller seltenen Erkrankungen aus. Weitere 40 % entfielen auf Subgruppen, die weniger als 45 Fälle jährlich umfassten (die Hälfte hiervon: weniger als 15 Fälle jährlich).

Diskussion: In der 1,8 Millionen Einwohner starken Freien und Hansestadt Hamburg fallen jährlich rund 30 % aller Krebsneuerkrankungen in die Gruppe der seltenen Krebsarten. Diese ist sehr heterogen und besteht aus 198 Subgruppen. Obwohl es in den letzten Jahrzehnten bedeutende Innovationen und Optimierungen in der Onkologie gab, stellt die Behandlung seltener Krebserkrankungen weiterhin eine große Herausforderung dar. Die klinische Entscheidungsfindung ist aufgrund der schwachen oder nicht vorhandenen externen Evidenz einerseits und gegebenenfalls mangelnder klinischer Erfahrung und fehlender Referenzpatientinnen und –patienten andererseits im Einzelfall erschwert.

Praktische Implikationen: Eine Zentralisierung der Behandlung von Personen mit seltenen Krebserkrankungen in spezialisierten Zentren scheint angebracht, um angesichts fehlender / schwacher externer Evidenz das klinische Erfahrungswissen zu erhöhen und die Entscheidungsfindung im Einzelfall zu erleichtern. Eine Auswertung (länderübergreifender) Daten aus der klinischen Krebsregistrierung könnte außerdem zur Verbesserung der Evidenzlage beitragen.