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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Ist Wissen schon „die halbe Miete“? Die Bedeutung von Mental Health Literacy im Kontext der Inanspruchnahme professioneller Hilfe bei unbehandelten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung

Meeting Abstract

  • Samuel Tomczyk - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Lehrstuhl Gesundheit und Prävention, Greifswald
  • Holger Mühlan - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Lehrstuhl Gesundheit und Prävention, Greifswald
  • Simone Freitag - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Lehrstuhl Gesundheit und Prävention, Greifswald
  • Susanne Stolzenburg - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald
  • Georg Schomerus - Universitätsmedizin Greifswald, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Greifswald
  • Silke Schmidt - Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Lehrstuhl Gesundheit und Prävention, Greifswald

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf034

doi: 10.3205/18dkvf034, urn:nbn:de:0183-18dkvf0343

Published: October 12, 2018

© 2018 Tomczyk et al.
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Text

Hintergrund: Das Konzept Mental Health Literacy (MHL), das die Kompetenz im Umgang mit psychischer Gesundheit beschreibt, legt nahe, dass eine höhere MHL bei vorliegender psychischer Erkrankung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Hilfe einhergeht. Die Befunde früherer Studien stützen sich jedoch vor allem auf Vignetten und nicht die selbstberichtete Inanspruchnahme der Befragten.

Fragestellung: Geht eine höhere MHL in der Bevölkerung mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, bei psychischen Problemen externe Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Methode: In einer longitudinalen Beobachtungsstudie wurden von 152 Personen (mittleres Alter=52,13 Jahre; 73 % weiblich) aus der Allgemeinbevölkerung mit einem zur Baseline unbehandelten depressiven Syndrom u. a. Angaben zur MHL und der Inanspruchnahme externer Hilfe für ihre psychischen Beschwerden erhoben. Als potentielle Hilfequellen wurden für die vorliegende Analyse Hausarzt, Familie/Freunde, Beratungsstelle/Sozialarbeit und professionelle Hilfe, d. h. Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiater berücksichtigt. Zur Baseline fand ein Interview (M.I.N.I.) zur Störungsdiagnostik und eine fragebogengestützte Datenerhebung (u. a. Erfassung der depressionsspezifischen MHL anhand der deutschen Version der D-Lit-Skala) statt; die Inanspruchnahme wurde drei und sechs Monate nach Erstbefragung durch telefonische Befragungen erfasst. Die Zusammenhänge zwischen MHL und Inanspruchnahme wurden über multiple logistische Regressionsmodelle geprüft, in denen für soziodemographische Kovariaten und die akute Depressionsschwere kontrolliert wurde.

Ergebnisse: Für MHL zeigten sich soziodemografische Unterschiede: Sie war in älteren sowie männlichen Personen geringer, in Personen mit therapeutischer Behandlungserfahrung höher ausgeprägt. Ferner war ein höheres Alter signifikant mit Inanspruchnahme des Hausarztes verbunden, eine höhere Depressionsschwere mit Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Der Zusammenhang zwischen MHL und Inanspruchnahme war nicht signifikant.

Diskussion: Die beobachteten soziodemografischen Unterschiede in MHL und Inanspruchnahme sind konsistent mit früheren Studien, allerdings konnten wir keinen Zusammenhang zwischen MHL und Inanspruchnahme aufzeigen. Da unsere Studie eine der ersten ist, die nicht auf Vignetten, sondern selbstberichtetem Verhalten basiert, ist zu vermuten, dass intermediäre Prozesse hier differentiell wirksam werden. Denkbar ist, dass MHL die Symptomwahrnehmung und –attribution beeinflusst, sodass bei höherer MHL psychische Erkrankungen schneller als solche identifiziert werden können. Die Inanspruchnahme externer Hilfe stellt dann, z. B. neben der Selbsthilfe, eine von mehreren möglichen Bewältigungsstrategien dar. Die Auswahl einer adäquaten Bewältigungsstrategie hängt wiederum vom Ausmaß der akuten Symptombelastung und den wahrgenommenen Kontrollmöglichkeiten ab. Unklar ist allerdings, ob MHL auch die Selbstwirksamkeit beeinflusst, die für die Implementation des Verhaltens bedeutsam ist.

Praktische Implikationen: Die Steigerung der MHL scheint nicht ausreichend zu sein, um die tatsächliche Inanspruchnahme von Hilfe zu verbessern. Konzeptuell sollte sie indes dazu beitragen, Symptome einer psychischen Erkrankung frühzeitig als solche zu identifizieren und in der Folge geeignete Bewältigungsmaßnahmen zu initiieren. Da die Rolle von MHL im Inanspruchnahmeprozess weiterer Forschung bedarf, kann eine Stärkung der MHL derzeit nicht als singuläre Maßnahme zur Verbesserung der Inanspruchnahme empfohlen werden. Darüber hinaus weisen unsere Befunde darauf hin, dass ältere Personen eine geringere MHL besitzen und häufiger den Hausarzt konsultieren. Daher sollte gerade in der hausärztlichen Versorgung älterer Personen besonders auf Symptome psychischer Erkrankungen geachtet werden, um frühzeitig adäquate Bewältigungsmaßnahmen anzustreben.

Förderhinweis: Einzelförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Förderkennzeichen: SCHM 2683/4-1 und SCHO 1337/4-1).