gms | German Medical Science

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Von der ambulanten Rückenschmerzdiagnose zur Operation – gibt es Prädiktoren für diesen Weg?

Meeting Abstract

  • Heinz G. Endres - AQUA Institut, Patientensicherheit und Arzneimittel, Göttingen
  • Linda Barnewold - AQUA Institut, Patientensicherheit und Arzneimittel, Göttingen
  • Sabine Hawighorst-Knapstein - AOK Baden-Württemberg Hauptverwaltung, Fachbereich Integriertes Leistungsmanagement, Referat medizinische Qualitätsförderung, Stuttgart
  • Petra Kaufmann-Kolle - AQUA Institut, Patientensicherheit und Arzneimittel, Göttingen
  • Burkhard Lembeck - BVOU Württemberg und Orthopädische – Unfallchirurgische Gemeinschaftspraxis, Landesvorsitzender BVOU Württemberg, Ostfildern

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf006

doi: 10.3205/18dkvf006, urn:nbn:de:0183-18dkvf0065

Published: October 12, 2018

© 2018 Endres et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Outline

Text

Hintergrund und Fragestellung: Gemäß Gesundheitsberichterstattung des Bundes zeigt sich am Beispiel von OPS 5-831 (Exzision von erkranktem Bandscheibengewebe), der zu den häufigsten OPS-Kodierungen bei operativ behandelten Rückenschmerz- (RS-) Patienten zählt, eine Zunahme operativer Behandlungen von 2005-2016 um 26% auf deutschlandweit 153.671 Fälle.

Diese Steigerung könnte man mit der demografischen Entwicklung und dem technischen Fortschritt erklären oder auch damit, dass unnötig viele Operationen durchgeführt werden, wie in einer 2017 publizierten Bertelsmann-Studie vermutet. Bertelsmann untersuchte das Auftreten der OPS-Codes 5-831, 5-836 und 5-839.6 und fand für die 9 Jahre von 2007-2015 eine Zunahme um insgesamt 71%. Hinter regionalen Unterschieden vermutet Bertelsmann wirtschaftliche Interessen ortsansässiger Facharztgruppen, weswegen der Wohnort des Patienten über die Art der Behandlung entscheiden soll.

Die Bertelsmann-Studie stieß auf fundierte Kritik, insbesondere wegen der fehlerhaften Gleichsetzung der Anzahl OPS-Codes mit der Anzahl durchgeführter Wirbelsäulenoperationen, da sich jede DRG-Codierung aus mehreren OPS-Codes zusammensetzt.

Nachfolgend wird daher das Ziel verfolgt, mit Hilfe der Analyse von Abrechnungsdaten der AOK Baden-Württemberg (BW) eine Antwort auf die Frage zu geben, ob Regionen oder die ambulante fachärztliche Versorgungsdichte die Einweisungs- oder OP-Rate beeinflussen.

Methode: Ausgewertet wurden anonymisierte Abrechnungsdaten der AOK BW für 2015. RS-Patienten sind alle Versicherten mit ambulanter und/oder stationärer RS-Diagnose. Unfallbedingte Wirbelsäulenoperationen wurden ausgeschlossen. Ambulante und stationäre Behandlung wurde den 44 Landkreisen und landkreisfreien Städten („Regionen“) zugeordnet, unter Aufschlüsselung der ambulant beteiligten Fachärzte.

Ergebnisse: Von allen AOK-Versicherten mit ICD10-Diagnose (Durchschnittsalter 54,9) wiesen 20,7% die Diagnose „nicht-spezifischer“ oder „spezifischer“ Rückenschmerz auf (Durchschnittsalter 58,1). Frauen sind in allen Altersgruppen häufiger vertreten.

KH-Einweisungsrate wegen RS nach Region: Die wenigsten RS-Patienten (0,78%) sind in Heidelberg, die meisten (1,79%) in Emmendingen eingewiesen worden. Unterschied: Faktor 2,3. Median der Einweisungsraten: 1,16%; Mittelwert: 1,19%.

OP-Rate wegen RS nach Region: Die niedrigste OP‐Rate (29,4%) fand sich im Landkreis Heilbronn (Einweisungsrate 1,45%), die höchste (71,8%) in Konstanz (Einweisungsrate 1,47%). Unterschied: Faktor 2,4. Median der OP-Raten: 49,8%; Mittelwert: 49,9%.

In Bezug auf die ambulante fachärztliche Versorgungsdichte (jeweils bezogen auf 100.000 AOK-Versicherte) zeigte sich:

OP-Rate, Region und Neurochirurgen: Die größte Neurochirurgendichte (32/100.000 in Konstanz) ist mit der höchsten OP‐Rate (71,8%) verknüpft, die zweitgrößte (21/100.000 in Tübingen) mit einer nur durchschnittlichen OP‐Rate von 58,1%, deutlich übertroffen von Heidelberg mit einer geringen Neurochirurgendichte (4/100.000) aber hohen OP‐Rate (64,2%). Die 12 Regionen ohne einen einzigen Neurochirurgen weisen eine OP-Rate zwischen 29,4% und 53,0% auf.

OP-Rate, Region und Orthopäden: Die größte Orthopädendichte (248/100.000 in Heidelberg) ist mit der zweithöchsten OP‐Rate (64,2%) verknüpft. Die zweitgrößte Orthopädendichte (jeweils 121/100.000) ist in Pforzheim mit einer niedrigen OP‐Rate (39,7%) und in Stuttgart mit einer hohen OP-Rate (57,6%) verknüpft. Der Hohenlohekreis mit der niedrigsten Orthopädendichte (18/100.000) und einer Neurochirurgendichte von Null bringt es auf eine überdurchschnittliche OP‐Rate von 53,0%.

Bei ambulanter Mitbehandlung durch einen Neurochirurgen werden insgesamt die höchste Einweisungsrate (16%) und die höchste OP-Rate (84,9%) wegen RS erreicht. Die Einweisung wird aber nur in 46,8% dieser Fälle auch vom Neurochirurgen selbst veranlasst, in 26,4% vom Hausarzt, und in 11,9% vom Orthopäden.

Diskussion: RS wird fast ausschließlich ambulant behandelt. KH-Einweisungen erfolgen mit knapp über 1% aller RS-Patienten selten. Es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen ambulanter Facharztdichte und Einweisungs- oder OP-Rate von RS-Patienten. Im Durchschnitt werden ca. 50% der stationär aufgenommenen Patienten operiert, 50% konservativ behandelt. Hohe Einweisungsraten in den Regionen gehen nicht Hand in Hand mit hohen OP-Raten. Der Unterschied zwischen den Regionen bezüglich Einweisungs- oder OP-Raten erreicht nur den Faktor 2. Erscheint es notwendig, den RS-Patienten ambulant durch einen Neurochirurgen mitbehandeln zu lassen, steigen sowohl die KH-Einweisungsrate (um das 13-fache) wie auch die OP-Rate (um das 1,7-fache).

Praktische Implikation: In bekannten Einzelfällen lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Einweisungs- bzw. OP-Rate und der Betreuung von RS-Patienten durch ortsansässige Fachärzte herstellen. In der Gesamtschau über alle Fachärzte in BW lässt sich ein derartiger Zusammenhang aber nicht nachweisen.