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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Interdisziplinäre Trans*-Gesundheitsversorgung: Ergebnisse und Implikationen partizipativer Versorgungsforschung

Meeting Abstract

  • Andreas Köhler - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE), Hamburg, Germany
  • Jana Eyssel - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE), Hamburg, Germany
  • Peer Briken - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE), Hamburg, Germany
  • Timo Nieder - Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE), Hamburg, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV102

doi: 10.3205/17dkvf127, urn:nbn:de:0183-17dkvf1278

Published: September 26, 2017

© 2017 Köhler et al.
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Text

Hintergrund: Trans* Personen erleben eine Diskrepanz zwischen dem bei Geburt zugewiesenen und dem individuell erlebten Geschlecht, woraus ein fortdauernder Leidensdruck (Geschlechtsdysphorie) resultieren kann. Das Sternchen im Begriff steht hierbei als Platzhalter für eine Vielzahl verschiedener Konzepte: transgeschlechtlich, transident, transsexuell, genderqueer, non-binär, geschlechtsneutral, etc. Bisher unterlag die Behandlung der Transsexualität (ICD-10, F64.0) einer binären Auffassung von Geschlecht, wonach sich transsexuelle Menschen eindeutig mit dem anderen Geschlecht identifizieren. Aktuelle Studien zeigen jedoch eine deutlich größere Vielfalt an geschlechtlichen Konzepten (z. B. non-binäre Identitäten wie ‘genderqueer‘). International wie national wird der Anspruch formuliert, seltene klinische Anliegen, wie die von trans* Personen spezialisiert, professionell koordiniert und interdisziplinär zu behandeln. Hierzu fordert der Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen eine Bildung von Behandlungszentren.

Fragestellung: Die vorzustellenden Studien untersuchten verschiedene Aspekte der interdisziplinären Trans*-Gesundheitsversorgung an Deutschlands erstem, hierauf spezialisiertem Zentrum, das alle für Trans*-Gesundheit relevante Disziplinen an einem Ort vorhält. Hierbei wurden folgende Fragestellungen untersucht:

1.
Welche inhaltlichen und strukturellen Erwartungen und Befürchtungen richten trans* Personen an eine interdisziplinäre Trans*-Gesundheitsversorgung?
2.
Welchen Einfluss haben verschiedene Geschlechtskonzeptionen der Teilnehmenden (binär und non-binär) auf ihre Anforderungen an der Trans*-Gesundheitsversorgung?
3.
Welche Einstellungen und Einflussmöglichkeiten haben wichtige Akteure („Stakeholder“, z.B. relevante Institutionen, Personen, Gruppen) gegenüber dem Zentrum und welche Konfliktpotentiale bestehen?

Methode: Ein Online-Fragebogen wurde partizipativ unter Beteiligung lokaler Vertreter_innen der Trans*-Community sowie trans*erfahrenen niedergelassenen Fachkräften entwickelt, der sowohl trans*-spezifische Aspekte als auch Dimensionen der allgemeinen Versorgungsqualität abdeckt. Zur Analyse des Projektumfeldes wurden relevante Stakeholder identifiziert und im Hinblick auf verschiedene Dimensionen (z.B. Einstellung zum Zentrum) befragt.

Ergebnisse: N=415 trans* Personen nahmen an einem Online-Fragebogen teil, der quantitativ und qualitativ ausgewertet wurde. Faktorenanalystisch wurden drei zentrale Dimensionen der Versorgungsqualität extrahiert (Kommunikation und Soziales, Individualität, Professionalität und Qualität). Darüber hinaus wurden relevante Befürchtungen gegenüber einer zentralisierten Trans*-Gesundheitsversorgung identifiziert (z.B. Monopolisierung der Versorgung). Hinsichtlich struktureller Aspekte zeigten sich organisatorische Faktoren (z.B. feste Ansprechpartner, keine wechselnden Behandler_innen) als bedeutsam. Außerdem fanden sich relevante Unterschiede bzgl. der Behandlungsanforderungen zwischen binär und non-binär identifizierten trans* Personen (z.B. hinsichtlich der Inanspruchnahme chirurgischer Maßnahmen).

An der Stakeholder-Analyse nahmen N = 42 Stakeholder teil, welche in 3 Gruppen bzw. 9 Subgruppen unterteilt wurden (z.B. niedergelassene medizinische Fachkräfte). Alle Stakeholder gaben eine positive bis sehr positive Einstellung zur interdisziplinären Trans*-Gesundheitsversorgung an. Alle Stakeholder berichteten außerdem ein Informationsdefizit bezüglich des Zentrums.

Diskussion: Die vorliegenden Studien konnte inhaltliche wie strukturelle Erwartungen und Befürchtungen von trans* Personen an eine interdisziplinäre Trans*-Gesundheitsversorgung erfassen und somit für Behandlungssuchende wie für Behandelnde valide Informationen zur Gestaltung des Centrums erheben. Es zeigte sich, dass die interdisziplinäre Trans*-Gesundheitsversorgung fortlaufender Rückkopplung ins Feld der Behandlungssuchenden und der Akteure bedarf. Die Gleichzeitigkeit von struktureller Entwicklung und Optimierung von Individualität und Flexibilität im Behandlungsprozess bleibt hierbei die Herausforderung für eine nachhaltige Versorgungsqualität.

Praktische Implikationen: Die Ergebnisse stärken die Bedeutung der Patient_innenorientierung in der Gesundheitsversorgung von trans* Personen, deren Heterogenität zu vielfältigen und häufig von heteronormativen Erwartungen abweichenden klinischen Fragestellungen führen. Für die involvierten Fachkräfte ist es in diesem Zusammenhang wichtig, eigene normative Einstellungen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität kritisch zu reflektieren, um eine qualitativ hochwertige interdisziplinäre Trans*-Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, die den Vorstellungen von Individualität und Flexibilität der behandlungssuchenden trans* Personen gerecht wird. Darüber hinaus können Transparenz, Kommunikation und Kollaboration mit den wichtigsten Akteur_innen des Zentrumsumfeldes sicherstellen, dass die medizinische Versorgung in hoher Qualität angeboten werden kann.