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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Können Selbsthilfegruppen für chronisch kranke Menschen die Selbstmanagementfähigkeiten und Gesundheitskompetenzen ihrer Mitglieder stärken? – Ergebnisse aus der SHILD-Studie

Meeting Abstract

  • Marius Haack - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Silke Kramer - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Marie-Luise Dierks - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
  • Stefan Nickel - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Christopher Kofahl - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Silke Werner - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Olaf von dem Knesebeck - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
  • Gabriele Seidel - Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV069

doi: 10.3205/17dkvf067, urn:nbn:de:0183-17dkvf0673

Published: September 26, 2017

© 2017 Haack et al.
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Text

Hintergrund: Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte multizentrische Projekt „Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland – Entwicklungen, Wirkungen, Perspektiven“ (SHILD) untersucht seit 2013 Strukturen, Bedarfe und Wirkungen der Selbsthilfe. Eine Teilstudie analysiert die Wirkung der Selbsthilfegruppenbeteiligung bei den teilnehmenden Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen (Diabetes Typ 2, Prostatakrebs, Multiple Sklerose, Tinnitus). Ziel ist unter anderem, Erkenntnisse über Selbstmanagementfähigkeiten und Gesundheitskompetenz von Selbsthilfeaktiven im Vergleich zu Nicht-Selbsthilfeaktiven zu gewinnen.

Methodik: Befragt wurden chronisch Kranke, die in Selbsthilfegruppen aktiv sind (Gruppe a) und im Vergleich dazu Personen, die diese Unterstützung nicht in Anspruch nehmen (Gruppe b). Beide Gruppen wurden schriftlich bzw. über Onlinefragebögen interviewt. Die Rekrutierung der Personen erfolgte für Gruppe a über die Selbsthilfeorganisationen und –kontaktstellen, für Gruppe b über Arztpraxen, Krankenkassen, Kliniken. Die Selbstmanagementfähigkeiten wurden mit dem Health Education Questionnaire (HeiQ) erfasst, von dem die fünf Dimensionen „soziale Unterstützung und Integration“, „Erwerb von Fertigkeiten und Handlungsstrategien“, „Konstruktive Einstellungen“, „Selbstüberwachung und Krankheitsverständnis“ und „Kooperation und Zurechtfinden im Gesundheitswesen“ genutzt wurden. Um gesundheitsbezogenes Wissens zu erheben, wurden Fragen zu Leitlinien, Patientenrechten und ausgewählten krankheitsspezifischen Aspekten integriert.

Ergebnisse: Im Querschnittsdesign konnten 1.238 Mitglieder aus Selbsthilfegruppen (Weiblich: 41%; Alter im Mittel: 63 Jahre; Schulbildung hoch: 46%, niedrig: 27%) mit 1.321 Gleichbetroffenen, die keine Selbsthilfegruppe besuchen (Weiblich: 53%; Alter im Mittel: 55 Jahre; Schulbildung hoch: 48%, niedrig: 20%), verglichen werden. Die Selbsthilfeaktiven sind im Vergleich schwerer durch ihre Erkrankung beeinträchtig als die Nicht-Selbsthilfeaktiven (57% vs. 36%). Sie sind zudem häufiger als Nicht-Selbsthilfeaktive auch außerhalb der Selbsthilfe sozial engagiert (51% vs. 21%).

Die Selbstmanagementkompetenzen insgesamt schätzen die Befragten beider Gruppen hoch ein (Skala 1-4↑; Mittelwert gesamt: 3,5). Multivariate logistische Regressionen mit allen Teilnehmenden zeigen, dass höhere Selbstmanagementkompetenzen in allen Dimensionen des HeiQ mit höherem Alter und höherer Schulbildung assoziiert sind. Auch zeigen sich Zusammenhänge zwischen der Mitgliedschaft in einer Selbsthilfegruppe und höheren Werten in den HeiQ-Dimensionen „soziale Unterstützung und Integration“ (OR: 1,3; CI: 1,1-1,6; p<0,05) sowie „Erwerb von Fertigkeiten und Handlungsstrategien“ (OR: 1,2; CI: 1,0-1,5; p<0,05). In den Dimensionen „Konstruktive Einstellungen“, „Selbstüberwachung und Krankheitsverständnis“, „Kooperation und Zurechtfinden im Gesundheitswesen“ werden dagegen keine Zusammenhänge mit einer Selbsthilfegruppenmitgliedschaft deutlich.

Mehr Wissen über Patientenrechte (OR:1,2; CI: 1,0-1,4; p=0,05), eine bessere Leitlinienkenntnis (OR: 1,9; CI: 1,6-2,3; p<0,05) und ein ausgeprägteres krankheitsspezifisches Wissen (OR: 1,3; CI: 1,1-1,5; p<0,05) sind assoziiert mit einer Mitgliedschaft in Selbsthilfegruppen.

Diskussion: Bei der Rezeption der Ergebnisse sind zunächst Selektionseffekte zu berücksichtigen, die aus der gewählten Rekrutierungsstrategie resultieren und die sich vermutlich auch in der hohen Selbsteinschätzung der Selbstmanagementkompetenz niederschlagen. Unterschiede zwischen Selbsthilfeaktiven und Nicht-Aktiven sind zwar nicht durchgängig zu beobachten, sie zeigen sich aber bei der sozialen Unterstützung und beim Erwerb von Fertigkeiten und Handlungsstrategien; Mitglieder aus Selbsthilfegruppen weisen hier höhere Werte auf. Dieser Zugewinn an Fertigkeiten korrespondiert mit einem gesteigerten krankheitsspezifischen Wissen und mehr Kenntnis zu Leitlinien und Patientenrechten.

Praktische Implikationen: Die Mitgliedschaft in einer Selbsthilfegruppe kann krankheitsbezogenes Wissen und gesundheitssystembezogenes Verständnis positiv beeinflussen. Es kann vermutet werden, dass sich das Informationsmanagement, das viele Selbsthilfeorganisationen in den letzten Jahren ausgebaut haben, positiv auf das Wissen und damit die Gesundheitskompetenz ihre Mitglieder auswirkt, zudem stärken die Gruppen nach wie vor die soziale Unterstützung und gemeinsame Bewältigung von Erkrankungen. Selbsthilfegruppen sind auch in der aktuellen Diskussion über eine geringe Gesundheitskompetenz der Bevölkerung eine wichtige Institution, deren Rolle bei der Entwicklung von aktuellen Strategien zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz chronisch Erkrankter mehr als bisher berücksichtigt werden sollte.