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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Decision Analysis zur Antibiotikagabe bei akuter Rhinosinusitis

Meeting Abstract

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  • Heinz G. Endres - AQUA Institut, Göttingen, Germany
  • Petra Kaufmann-Kolle - AQUA-Institut, Göttingen, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV212

doi: 10.3205/17dkvf057, urn:nbn:de:0183-17dkvf0578

Published: September 26, 2017

© 2017 Endres et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


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Hintergrund und Fragestellung: Die akute Rhinosinusitis hat in ca. 90-95% aller Fälle eine virale Genese mit einer Spontanheilungsrate von 100% [1]. Bakterielle Infektionen sind hingegen selten. Sie haben meist eine Spontanheilungsrate von 60-80% innerhalb von 2 Wochen [2]. Drei typische bakterielle Erreger der akuten Rhinosinusitis sind (ungefähre Häufigkeit des Auftretens) Streptococcus pneumoniae (40%), Haemophilus influenzae (30%) und Moraxella catarrhalis (30%) [2], [3]. Für die gezielte antibiotische Erstlinientherapie wird üblicherweise Amoxicillin empfohlen [2], [4], [5], [6]. Die Resistenzlage der drei Erreger gegenüber Amoxicillin reicht von 0,9% (Streptococcus pneumoniae) über 12,6% (Haemophilus influenzae) bis 98% (Moraxella catarrhalis). Aufgrund der hohen Spontanheilungsrate haben Experten des ESAC-Net (European Surveillance of Antimicrobial Consumption) empfohlen, weniger als 20% der Patienten mit akuter Rhinosinusitis antibiotisch zu behandeln (Ausnahme Kleinkinder) [4], [6]. In der hausärztlichen Praxis stellt sich aber immer wieder die Frage, ob es nicht doch von Vorteil wäre, Patienten mit einer akuten Rhinosinusitis von Anfang antibiotisch zu versorgen. Um diese Frage zu beantworten, haben wir eine Decision Analysis (sofortige Amoxicillingabe versus Watchful Waiting) unter Berücksichtigung der oben genannten Wahrscheinlichkeiten durchgeführt.

Methode: Ein Decision Tree, mit den beiden grundlegenden Strategien „Watchful Waiting“ („Wait-and-See“) oder Sofortige Antibiose („Treatment Now“), ermöglicht unter Berücksichtigung der oben genannten Wahrscheinlichkeiten die Berechnung der „Best Treatment Option“. Im Rahmen einer Sensitivity Analysis werden diese Wahrscheinlichkeiten variiert um zu testen, welche Auswirkungen dies auf die „Best Treatment Option“ hat.

Ergebnisse: Zwischen den beiden Behandlungsstrategien zeigt sich nur ein geringer Erfolgsunterschied. Formal ist die „Best Treatment Option“ bei akuter Rhinosinusitis die sofortige Gabe von Amoxicillin („Treatment Now“). Die Wahrscheinlichkeit für einen Therapieerfolg ist mit 99,3% aber nur 1,3% größer als die unter „Watchful Waiting“ (98,0%). Die beiden Hauptgründe dafür sind der hohe Anteil einer rein viralen Genese (90%), und die Spontanheilungsrate der bakteriellen Infektion von 80%.

Mit Hilfe der Sensitivity Analysis lassen sich die Auswirkungen einer Variation der oben genannten Wahrscheinlichkeiten auf die „Best Treatment Option“ zeigen:

Für Anteil viraler Genese 90%:
Eine Verringerung der Spontanheilungsrate der bakteriellen Infektion auf

  • 50% führt zu Therapieerfolgen von 98,3% (sofortige Antibiose) und 95,0% (Watchful Waiting)
  • 20% führt zu Therapieerfolgen von 97,3% (sofortige Antibiose) und 92,0% (Watchful Waiting)

Für Spontanheilungsrate 80%:
Ein höherer Anteil bakterieller Genese von

  • 30% führt zu Therapieerfolgen von 98,0% (sofortige Antibiose) und 94,0% (Watchful Waiting)
  • 50% führt zu Therapieerfolgen von 96,7% (sofortige Antibiose) und 90,0% (Watchful Waiting)

Für Spontanheilungsrate 50%:
Ein Anteil bakterieller Genese von 50%

  • führt zu Therapieerfolgen von 91,6% (sofortige Antibiose) und 75,0% (Watchful Waiting)

Für Antibiotikaresistenz 100%:
Diese Extremannahme führt zu einer indifferenten Situation

  • Therapieerfolg von jeweils 98% (sofortige Antibiose und Watchful Waiting), da Antibiose unter dieser Annahme ohne jeden Effekt ist

Für Spontanheilungsrate 0%:
Diese Extremannahme führt zu einem

  • Therapieerfolgen von 96,6% (sofortige Antibiose) und 90,0% (Watchful Waiting), letzteres entsprechend dem Anteil viraler Genese

Diskussion: Die Decision Analysis Methode unterstützt die einschlägigen Empfehlungen, mit einer Antibiotikagabe bei Infektionen der oberen Atemwege äußerst zurückhaltend zu sein. Die prozentualen Erfolgsunterschiede zwischen den beiden Therapiealternativen sind, selbst bei Wahl von Extremannahmen, klein.

Überraschend sind auch die geringen Erfolgsunterschiede (6,7%) zwischen sofort durchgeführter Antibiose und Watchful Waiting bei Patienten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit (50%) für eine bakterielle Beteiligung (und Spontanheilungsrate von 80%). Dies widerspricht im ersten Moment jeglicher Intuition. Mit Hilfe der Sensitivity Analysis kann gezeigt werden, dass dies auf der Spontanheilungsrate der bakteriellen Erkrankung beruht. Aber selbst eine Kombination von gerade einmal 50% Spontanheilungsrate bei 50% Wahrscheinlichkeit für bakterielle Genese führt nur zu einer Erfolgsdifferenz von 16,6% zwischen den beiden Therapiealternativen.

Praktische Implikation: Unsere Decision Analysis unterstützt die Empfehlungen, bei der Gabe von Antibiotika bei „grippalen Infekten“ möglichst restriktiv vorzugehen. In einem nächsten Schritt muss versucht werden, Konzepte zu entwickeln, die dem Hausarzt im Alltag dabei helfen, seine akut erkrankten Patienten von diesem restriktiven Vorgehen zu überzeugen.


Literatur

1.
KBV. 2012
2.
Stuck BA, et al. Leitlinie Rhinosinusitis. Kurz- und Langfassung. DEGAM DGHNO; 2016
3.
Uniklinik Ulm. 2012
4.
BVL. 2014
5.
KBV und AkdÄ. 2013
6.
AkdÄ. 2013