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Sozioökonomische Gradienten bei der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen in Deutschland von 2002 bis 2009
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Published: | September 28, 2016 |
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Hintergrund: Soziale Ungleichheit in der medizinischen Versorgung hat als Thema in Politik und Gesellschaft an Bedeutung und Aktualität gewonnen. Die steigende Bedeutung von privater Finanzierung in der Gesundheitsversorgung birgt die Gefahr einer zunehmenden sozialen Diskrepanz in der medizinischen Versorgung in sich. Auch im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung wurde der unmittelbare Einfluss des Sozialstatus nachgewiesen. Da der Einfluss auf die klinischen Parameter der Mundgesundheit bereits vielfach dargestellt wurde, lag der Fokus der vorliegenden Untersuchung darauf, wie der Sozioökonomische Status (SES) und das Haushaltsnettoeinkommen (HHN) Einfluss auf die Inanspruchnahme der zahnärztlichen Versorgung von Erwachsenen in Deutschland nehmen.
Fragestellung: Gab es in Abhängigkeit vom SES, HHN sowie Geschlecht eine unterschiedliche Zugänglichkeit zu zahnmedizinischen Leistungen in Deutschland von 2002 bis 2009?
Methode: Als Datenbasis wurde die öffentlich zugängliche, deutschlandweite Querschnittsbefragung des „Bertelsmann Gesundheitsmonitors“ herangezogen. Insgesamt wurden 24.408 repräsentativ ausgewählte Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren, zweimal jährlich von 2002 bis 2009, über insgesamt 16 Wellen auf postalischem Weg befragt. Zur Beschreibung der Zugänglichkeit zu zahnmedizinischen Leistungen wurden die Zielvariablen „Anzahl der jährlichen Zahnarztbesuche“, „Höhe der Zuzahlungen zum Zahnersatz“ und „Abschluss einer Zahnzusatzversicherung“ herangezogen. Die statistischen Auswertungen erfolgten mittels t-Test und ANOVA für kontinuierliche Variablen bzw. Chi-Quadrat-Test für kategoriale Variablen. Der Einfluss des SES bzw. des HHN auf die o.g. Zielgrößen wurde mittels multivariabler Regressionsverfahren geprüft, wobei die Effekte weiterer Faktoren wie Alter, Geschlecht und Befragungszeitpunkt (Welle) im Modell berücksichtigt wurden.
Ergebnisse: Die Befragten konsultierten im Untersuchungszeitraum durchschnittlich 2,4-mal im Jahr den Zahnarzt. Die geleisteten Zuzahlungen zum Zahnersatz sanken in den Jahren 2002 bis 2006 von 315 € um ca. 40% auf 177 €. Gleichzeitig stiegen sie pro Lebensdekade um durchschnittlich 87 € (95% - Konfidenzintervall [KI]: 71 € - 103 €) an. Der SES zeigte über den gesamten Erhebungszeitraum nur bei den Zahnzusatzversicherungen einen signifikanten Einfluss. Personen mit mittlerem SES hatten im Schnitt 1,86 (95% - KI: 1,58-2,18) mal so häufig, Personen mit hohem SES 2,37 (95% - KI: 1,96 - 2,86) mal so häufig Zahnzusatzversicherungen abgeschlossen wie die Angehörigen der niedrigsten SES-Schicht. Pro Befragungswelle sind 24% mehr Zahnzusatzversicherungen abgeschlossen worden. Dagegen zeigte das HHN im Rahmen einer Sensitivitätsanalyse einen signifikanten Einfluss auf die Höhe der Zuzahlungen zum Zahnersatz sowie den Abschluss von Zusatzversicherungen.
Diskussion: Die Regelmäßigkeit des Zahnarztbesuchs in Deutschland von 2002 - 2009 wurde nicht durch den SES oder das HHN beeinflusst. Abhängigkeiten ergaben sich aber bei der Fähigkeit, Zuzahlungen zum Zahnersatz zu leisten bzw. Zusatzversicherungen zum Zahnersatz zu erwerben.
Da die Stichprobenauswahl nach einem standardisierten und etablierten Verfahren erfolgte, gehen wir von deutschlandweit repräsentativen und gut verallgemeinerbaren Ergebnissen aus.
Inanspruchnahme von zahnärztlichen Behandlungen: Die Patienten unserer Untersuchung gingen 2,4 mal im Jahr zum Zahnarzt. Dieses insgesamt gute Vorsorgeverhalten hat sich trotz der gesetzlichen Änderungen unabhängig vom SES oder HHN über die Jahre nicht verschlechtert.
Zuzahlungen zum Zahnersatz: In unseren Auswertungen reduzierten sich die durchschnittlichen Zuzahlungen zum Zahnersatz um über 40%. Die Erklärung sehen wir darin, dass es im Rahmen der Einführung des Festzuschusssystems zu einem deutlichen Rückgang der Fallzahlen und geleisteten Zuzahlungen kam. Der SES bzw. das HHN zeigten keinen Effekt.
Zusatzversicherungen: Die Leistungseinschränkungen durch die Gesetzgebung und günstigere Bedingungen für Zusatzversicherungen führten zu einer gesteigerten Nachfrage für Zusatzversicherungen im Untersuchungszeitraum. Der SES zeigte hierbei deutliche Effekte.
Praktische Implikationen: Die Kosteneinsparungen der Krankenkassen bei der Vergütung zahnärztlicher Leistungen, ein veralteter Vergütungskatalog sowie steigende Kosten beim Praxisunterhalt werden in Zukunft dafür sorgen, dass steigende Kosten beim Zahnarzt in Form von privaten Zuzahlungen auf den Kassenpatient umgelagert werden. Zahnzusatzversicherungen werden in Zukunft häufiger abgeschlossen, da sie Leistungen abdecken, die nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Nicht jeder Patient kann sich jedoch eine solche Versicherung leisten. In der Gesamtheit führen diese Prozesse zu einer Benachteiligung der schwächsten SES-Schichten. Es ist Aufgabe der Politik diesen Prozessen in Zukunft entgegenzuwirken.