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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Profitieren alle Menschen mit psychischen Erkrankungen gleichermaßen von einer vernetzten Versorgung?

Meeting Abstract

  • Katja Kleine-Budde - AQUA - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen, Göttingen, Deutschland
  • Katja Götz - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein/Campus Lübeck, Institut für Allgemeinmedizin, Lübeck, Deutschland
  • Constance Stegbauer - AQUA - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen, Göttingen, Deutschland
  • Beate Bestmann - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), Hamburg, Deutschland
  • Anke Bramesfeld - European Commission - DG Joint Research Centre, Institute for Health and Consumer Protection Public Health Policy Support Unit – Healthcare Quality Team, Ispra, Italien

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP106

doi: 10.3205/16dkvf143, urn:nbn:de:0183-16dkvf1439

Published: September 28, 2016

© 2016 Kleine-Budde et al.
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Text

Hintergrund: Die in anderen Ländern bereits etablierten multiprofessionellen, gemeindenah und aufsuchend arbeitenden Teams zur Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sind in Deutschland bisher nur in Modellprojekten zu finden. In diesen Modellprojekten werden unterschiedliche Patientengruppen, zumeist definiert anhand von Diagnosen, versorgt. Das Modellprojekt NetzWerk psychische Gesundheit (NWpG) schließt Patienten aller psychiatrischen Erkrankungen ein, mit Ausnahme von Patienten mit reinen Suchterkrankungen. Es zielt aber vorwiegen darauf die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (severe mental illness–SMI) zu optimieren.

Fragestellung: Inwiefern unterscheiden sich Menschen mit SMI von denen ohne SMI (weniger schwere psychische Erkrankung) hinsichtlich der Funktionalität, der Lebensqualität und der Inanspruchnahme von stationärer Versorgung in einer multiprofessionellen, gemeindenahen und aufsuchenden Versorgung?

Methode: Routinedaten und Befragungsdaten von in das NWpG eingeschriebenen Versicherten der Techniker Krankenkasse (TK) der Jahre 2010 bis 2014 standen zur Verfügung. Alle TK-Versicherten, die mindestens zwei Jahre im NWpG versorgt wurden, wurden anhand ihrer psychiatrischen Hauptdiagnose der Gruppe der Versicherten mit SMI (ICD-10 F20-F29, F30.2, F31.2, F31.5, F32.3, F33.3) oder der Gruppe der Versicherten ohne SMI zugeordnet. Die Einteilung der TK-Versicherten erfolgte anhand der stationär und ambulant vergebenen Diagnosen im Jahr vor der Einschreibung in das NWpG. Patientenrelevante Outcomes waren: die halbjährlich routinemäßige Erhebung der Funktionalität durch die Health of the Nation Outcome Scales (HoNOS) und die Lebensqualität mittels dem World Health Organization Quality of Life-BREF-Fragebogen (WHOQoL-BREF). Darüber hinaus wurde die Inanspruchnahme der stationären Versorgung (Anzahl der Krankenhausaufenthalte und -tage) als Outcome ausgewertet. Es erfolgten deskriptive Auswertungen der ersten beiden Jahre im NWpG (t0 – t4), getrennt nach Versicherten mit SMI und ohne SMI.

Ergebnisse: 4795 TK-Versicherte, davon 1320 TK-Versicherte mit SMI (27,3 %), waren seit mindestens zwei Jahren in das NWpG eingeschrieben. Die TK-Versicherten mit SMI waren zu 42,1 % männlich und durchschnittlich 45,7 Jahre alt. TK-Versicherte ohne SMI waren zu 33,1 % männlich und durchschnittlich 45,5 Jahre alt. Zu 1707 Versicherten (26,6 % SMI) lag zu allen Zeitpunkten (t0 bis t4) ein HoNOS-Wert vor. Beide Gruppen hatten einen ähnlichen Wert zu t0 (Einschreibung in NWpG; 9,65 vs. 9,54 Punkte). In beiden Gruppen verbesserte sich die Funktionalität, wobei die Verbesserung bei Versicherten ohne SMI stärker ausfiel (1,12 vs. 0,34 Punkte). Ab t3 (zweites Jahr der Einschreibung) unterschieden sich die Werte signifikant voneinander. Zu 1236 Versicherten (SMI: 27,0 %) lag zu allen Zeitpunkten ein WHOQoL-Wert vor. Bereits zur Einschreibung hatten Versicherte mit SMI eine signifikant bessere Lebensqualität als Versicherte ohne SMI (58,0 KI: 56,3 – 59,7 vs. 53,7 KI: 52,7 – 54,7). Dieser Unterschied blieb in den ersten beiden Jahren im NWpG bestehen. Daten zur Inanspruchnahme stationärer Versorgung standen zu 4758 Versicherten (SMI: 27,7 %) zur Verfügung. Im Jahr vor Einschreibung waren Versicherte mit SMI durchschnittlich 2 Tage weniger als Versicherte ohne SMI (20,9 vs. 22,9 Tage) im Krankenhaus. Die Anzahl der Krankenhaustage nahm bei Versicherten ohne SMI stärker ab als bei Versicherten mit SMI, sodass im zweiten Jahr der Einschreibung Versicherte ohne SMI signifikant weniger Tage im Krankenhaus waren, als Versicherte mit SMI (6,46 vs. 11,5 Tage). Ähnlich verhielt es sich mit der Anzahl der Krankenhausaufnahmen.

Diskussion: Nur 27,3 % der eingeschriebenen Versicherten waren Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung. Bezogen auf die Funktionalität und Inanspruchnahme der stationären Versorgung verbesserten sich psychisch erkrankte Menschen ohne SMI stärker als Menschen mit SMI. Die Funktionalität der Menschen mit SMI war bereits bei Eintritt in das NWpG hoch. Bei der Inanspruchnahme der stationären Versorgung war bei Menschen mit SMI eine deutliche Reduktion zu erkennen.

Praktische Implikationen: Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen profitieren von der Versorgung im NWpG, allerdings weniger als Menschen mit weniger schweren psychischen Erkrankungen. Die Versorgung durch das NWpG sollte sich stärker an den Bedürfnissen und Bedarfen der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ausrichten.