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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Kontinuität und Qualität der Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden: Herausforderungen einer schnittstellenübergreifenden Versorgung aus Sicht der Gesundheitsämter

Meeting Abstract

  • Stefan Nöst - Universitätklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg, Deutschland
  • Oliver Razum - Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie & International Public Health, Bielefeld, Deutschland
  • Heidrun Thaiss - Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, Deutschland
  • Joachim Szecsenyi - Universitätklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg, Deutschland
  • Kayvan Bozorgmehr - Universitätklinikum Heidelberg, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Heidelberg, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV12

doi: 10.3205/16dkvf116, urn:nbn:de:0183-16dkvf1168

Published: September 28, 2016

© 2016 Nöst et al.
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Text

Hintergrund: Asylsuchende werden nach Einreise bis zur Anerkennung von vielen unterschiedlichen Akteuren des Gesundheitssystems medizinisch versorgt. In der Erstaufnahmeeinrichtung erfahren Asylsuchende entsprechend eines Bundesgesetzes eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten (vgl. §62 AsylG). Sowohl der Umfang als auch die Leistungserbringung dieser Untersuchung, z.B. durch Gesundheitsämter oder Honorarversorger, variieren aufgrund des föderalen Sicherstellungsauftrages über die einzelnen Bundesländer hinweg. Neben dieser bevölkerungsmedizinischen Maßnahme unterscheiden sich auch die leistungseingeschränkten (§§ 4,6 AsylbLG), individualmedizinischen Angebote entlang der gesamten Versorgungskette: von speziellen Versorgungsmodellen in der Erstaufnahme bis hin zur Regelversorgung in niedergelassenen Praxen. Betrachtet man das Versorgungsangebot entlang dieses Kontinuums, zeigt sich ein stark fragmentiertes, komplexes Versorgungssystem. Aus Sicht der Versorgungsforschung stellen sich hierbei insbesondere Fragen nach der Kontinuität und einer Qualitätssicherung der schnittstellenübergreifenden Versorgung von Asylsuchenden.

Fragestellung: Ergeben sich aus den spezifischen Settings der Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden Versorgungsdefizite, und wenn ja, welche? Ausgehend davon ist das Ziel dieses Beitrages die Entwicklung eines Rahmenkonzeptes zur weiteren Gestaltung qualitätssichernder Maßnahmen.

Methode: Datengrundlage ist eine bundesweite Mixed-Method Befragung von Gesundheitsämtern zur Versorgungssituation von Asylsuchenden. Die Befragungsinstrumente (schriftlicher Fragebogen und Interviewleitfaden) wurden basierend auf Expertenbefragungen selbst entwickelt und kognitiven Pretests unterzogen. Für die Fragebogenstudie wurden die Amtsleitungen aller Gesundheitsämter (N=389) angeschrieben. Der Fragebogen bestand aus 44 Items und umfasste die Dimensionen (1) ärztliche Maßnahmen und Screening, (2) Prävention und Gesundheitsförderung, (3) Kommunikation, (4) Dokumentation und Information, (5) Koordination, (6) strukturelle Ressourcen und Bedarfe. Die Transkripte der Telefoninterviews wurden in Anlehnung an das Konzept „Canadian health indicators framework“ mittels MAXQDA inhaltsanalytisch einer Framework Analyse unterzogen und mit den quantitativen Daten trianguliert. Die Befragung wurde gefördert durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit.

Ergebnisse: Versorgungsprobleme bestehen aufgrund der schnittstellenübergreifenden Versorgung in einem hochfragmentierten Versorgungssystem, wobei das Ausmaß von der Lebenslage und individuellen Unterbringungssituation abhängt. Lokal bestehen sehr unterschiedliche Versorgungsangebote, die häufig von der Regelversorgung abgekoppelt sind und sich als spezielle, individualmedizinische Versorgungmodelle etablieren (z.B. ehrenamtliche Leistungserbringung oder Einbezug des Öffentlichen Gesundheitsdienstes). Herausforderungen dabei bestehen vor allem hinsichtlich der Dokumentation und Informationsweitergabe von Versorgungsdaten entlang der gesamten Versorgungskette, von der Erstaufnahme bis zum Zugang in die Regelversorgung. Sprachbarrieren bedingen den kontextspezifischen Zugang zu Versorgungsangeboten, die Information der Patienten und schlussendlich auch die Behandlungsplanung und gemeinsame Entscheidungsfindung. Anforderungen an Kompetenzentwicklung bestehen sowohl bei Versorgenden (kultursensible Versorgung) als auch bei Asylsuchenden (Systemwissen). Ausgehend von den Versorgungsproblemen wurden Dimensionen als Basis für die Entwicklung von Qualitätsindikatoren definiert: Kontinuität, Effektivität (Strukturen, Prozess), Rechtzeitigkeit, formaler Zugang, kontextabhängiger Zugang, Kompetenz, Ergebnis.

Diskussion: Für den Bereich spezieller Versorgungsmodelle, meist im Zuge der Erstaufnahmesituation etabliert, sollte aus Gründen der Transparenz und Leistungssicherung die Entwicklung spezifischer, qualitätssichernder Maßnahmen angestrebt werden. Die skizzierten Versorgungsprobleme führen zu Brüchen in der Versorgung, die Maßnahmen sollten sich prioritär auf die Kontinuität entlang der Versorgungskette beziehen. Qualitätssichernde Maßnahmen können dabei generisch sein (z.B. Informationsweitergabe bei wechselnder Unterbringung/Versorgung) oder auch indikationsspezifisch, gerade für besonders vulnerable Gruppen (z.B. Schwangere und Wöchnerinnen).

Implikationen für die Praxis Die Praxis der Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden ist durch eine große Heterogenität und Komplexität gekennzeichnet. Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrages stellen eine erste konzeptionelle Grundlage für die weitere Forschung und die Entwicklung von qualitätssichernden Maßnahmen dar. Entscheidende Grundlage für weitere Schritte ist die Verfügbarkeit von systematisch erhobenen Daten zur Versorgungssituation von Asylsuchenden.