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Die ambulante vertragsärztliche Versorgung in Deutschland – zentrale Ergebnisse der KBV-Versichertenbefragung von 2006 bis 2015
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Published: | September 28, 2016 |
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Published with erratum: | January 4, 2017 |
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Hintergrund: Gesundheitssurveys haben durch die gezielte Abfrage relevanter Gesundheitsthemen bei den Versicherten Bedeutung für die Versorgungsforschung und -praxis in Deutschland. Sie sind ein Instrument zur Gewinnung von Primärdaten und generieren Informationen, die die Zahlen amtlicher Statistiken und Prozessdaten nicht hervorbringen.
Befragungen haben insbesondere dann einen Mehrwert, wenn dadurch Fragen der gesundheitlichen Versorgung beantwortet und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung abgeleitet werden können. Die Thematik soziale Unterschiede in der ambulanten Gesundheitsversorgung ist dabei ein Bereich, zu dem mittels Bevölkerungsbefragungen relevante Erkenntnisse zur Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens gewonnen werden können.
Fragestellung: Dieser Beitrag stellt die wichtigsten Befragungen zur ambulanten Gesundheitsversorgung in Deutschland der letzten zehn Jahre gegenüber. Er zeigt (1) deskriptiv auf, welche Personengruppen, Themen und Fragen im Fokus standen und stehen.
Darüber hinaus wird untersucht, inwiefern (2) die Ergebnisse der Erhebungsreihe der Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) von 2006 bis 2015 Rückschlüsse auf soziale Unterschiede in Inanspruchnahme der und Zugang zur ambulanten vertragsärztlichen Versorgung erlauben.
Methode: Für eine vergleichende Übersicht der Gesundheitssurveys werden bevölkerungsweite Umfragen zur ambulanten Versorgung entlang zentraler Merkmalskategorien untersucht und gegenüberstellt.
Zur Analyse der sozialen Unterschiede wurden zunächst die Datensätze der acht Einzelbefragungen der KBV-Versichertenbefragung zusammengefügt. Der kumulierte gewichtete Datensatz umfasste 38.844 Personen.
Die Dimension der Inanspruchnahme wird durch Haus- und Facharztbesuche operationalisiert, die des Zugangs anhand der Wartezeiten auf einen Haus- oder Facharzttermin. Soziodemografische Merkmale, Versicherungsstatus und Gesundheitszustand der Befragten bilden die unabhängigen Variablen.
Neben bivariaten erfolgen multivariate Analysen mittels binärer logistischer Regressionen.
Ergebnisse: Sieben Befragungen zur ambulanten Gesundheitsversorgung können identifiziert werden. Diese weisen Schnittmengen in den Themenschwerpunkten, jedoch bisweilen deutliche Differenzen im methodischen Vorgehen auf.
Multivariat werden explizit die Maximalkategorien beider Dimensionen betrachtet, d.h. „über zehn Besuche in den letzten zwölf Monaten bei Haus- oder Facharzt“ und „über einen Monat Termin-Wartezeit beim letzten Arztbesuch“.
Der stärkste Zusammenhang mit häufigen Arztkontakten existiert für Personen mit weniger gutem/schlechtem Gesundheitszustand gegenüber denen mit ausgezeichnetem Gesundheitszustand. Dies gilt für Haus- (OR: 8,40; KI: 6,22-11,34) wie auch Facharzt-Besuche (OR: 8,55; KI: 6,17-11,85).
Das am stärksten erhöhte Risiko langer Termin-Wartezeiten beim Hausarzt haben Personen, die diesen aufgrund einer Vorsorgeuntersuchung aufsuchen (OR: 8,11; KI: 5,38-12,22), verglichen zu denen mit einem aktuellen Problem. Beim Facharzt trifft dies auf Personen mit gesetzlicher Krankenversicherung (OR: 4,377; KI: 3,36-5,70) gegenüber jenen mit privater zu.
Im Vergleich der Erhebungsjahre 2015 und 2006 haben lange Wartezeiten sowohl bei Hausarzt- (OR: 1,54; KI: 1,05-2,67) als auch Facharzt-Terminen (OR: 1,59; KI: 1,28-1,97) zugenommen.
Diskussion: Die häufige Inanspruchnahme der ambulant tätigen Haus- und Fachärzte wird primär von dem gesundheitlichen Befinden der Versicherten bestimmt. Dies impliziert eine vorhandene Bedarfsgerechtigkeit in der ambulanten Versorgung.
Dass lange Wartezeiten beim Facharzt stärker durch den gesetzlichen Versichertenstatus denn den Grund des Arztbesuchs und den Gesundheitsstatus beeinflusst werden, kann mit den unterschiedlichen Vergütungsstrukturen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung zusammenhängen.
Praktische Implikationen: Maßnahmen zur Patientensteuerung sollten im Falle ihrer Implementierung sicherstellen, dass primär der medizinische Bedarf der Versicherten die Inanspruchnahme von Haus- und Fachärzten bestimmt.
Die Debatte um Termin-Wartezeiten in der ambulanten Versorgung sollte sich auch mit der Klärung beschäftigen, welcher Zusammenhang zwischen langen Wartezeiten und Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken der Versicherten besteht.
Zu einer Reduzierung der wartezeitenbedingten Zugangsunterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten könnte ein Mechanismus beitragen, der die Vereinbarung von Facharztterminen für dringliche Behandlungsfälle mit ansonsten langer Wartezeit durch den Hausarzt sicherstellt.
Die Erkenntnisse verdeutlichen, dass eine sozial ausgeglichene ambulante Gesundheitsversorgung flexible Steuerungsansätze in Inanspruchnahme und Zugang erfordert.