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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Vorausschauende Versorgungsplanung bei gebrechlichen älteren Menschen – Ergebnisse aus Fokusgruppendiskussionen mit Pflegenden, Hausärzten und medizinischen Fachangestellten

Meeting Abstract

  • Saskia Jünger - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Karin Geiger - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Katharina Klindtworth - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Gabriele Müller-Mundt - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Jutta Bleidorn - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Nils Schneider - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocP169

doi: 10.3205/15dkvf301, urn:nbn:de:0183-15dkvf3011

Published: September 22, 2015

© 2015 Jünger et al.
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Text

Hintergrund: Die Versorgung gebrechlicher älterer Menschen an ihrem Lebensende ist von verschiedenen Herausforderungen geprägt und daher Gegenstand fachlicher, wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Diskussionen. Vorausschauende Versorgungsplanung wird als Schlüssel für eine gut koordinierte Versorgung gesehen, bei der die Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschen angemessen berücksichtigt werden.

Fragestellung: Welche Faktoren spielen in der Versorgung gebrechlicher älterer Menschen an ihrem Lebensende aus der Sicht von Pflegenden, Hausärzten und medizinischen Fachangestellten eine Rolle bei der Umsetzung einer vorausschauenden Versorgungsplanung und der Berücksichtigung des Patientenwunsches?

Methode: Als Teil einer qualitativen Längsschnittstudie zu den Bedürfnissen und der Angemessenheit von Versorgungsangeboten für gebrechliche ältere Menschen am Lebensende wurden Ende 2014 drei monoprofessionelle Fokusgruppen mit Pflege-Expert/innen (n=11), Hausärzt/innen (n=5) und Medizinischen Fachangestellten (n=6) durchgeführt. Der Diskussionsleitfaden basierte auf den Ergebnissen vorhergehender Teilprojekte und beinhaltete als zentrale Themen: Ressourcenförderung; Versorgungskontinuität; Kooperation und Vernetzung; vorausschauende Versorgungsgestaltung; letzte Lebensphase und Sterben zu Hause. Die Diskussionen wurden digital aufgezeichnet und transkribiert. Die Datenauswertung erfolgte mittels einer Kombination aus inhaltlich-strukturierender und formaler qualitativer Inhaltsanalyse mithilfe der Textanalyse-Software MAXQDA. In den Kategoriensystemen wurden Oberkategorien mittels deduktiven Kodierens auf Grundlage der Leitfragen gebildet; Unterkategorien wurden induktiv am Material entwickelt.

Ergebnisse: Im Zusammenhang mit Vorausschauender Versorgungsplanung wurde die Problematik diskutiert, dass der Wille des Patienten oftmals nicht ausreichend exploriert und berücksichtigt wird. Dadurch erfolgen häufig entgegen dem erklärten Patientenwunsch – beispielsweise im Rahmen einer Patientenverfügung – Krankenhauseinweisungen oder lebenserhaltende Maßnahmen. Kritische Faktoren waren in diesem Kontext: (1) fachliche und rechtliche Unsicherheit; (2) mangelnde Kenntnis und Vertrauen in die eigene Kompetenz, Krisensituationen am Lebensende adäquat zu handhaben; sowie (3) fehlende personelle Kapazitäten. Als förderliche Bedingungen wurden zum einen strukturelle und prozessuale Aspekte der Versorgung genannt, beispielsweise Verfügbarkeit einer Rufbereitschaft durch einen informierten Ansprechpartner, Informationsfluss und Zusammenarbeit im Team. Zum anderen wurde die professionelle Haltung als essenzielle Komponente hervorgehoben – der Wille, sich aktiv um Hintergrundinformationen zu bemühen; die Bereitschaft, eine Entscheidung zu treffen und zu verantworten; sowie die wahrgenommene Legitimation, sich auf fürsorgendes Handeln einzulassen statt Leben zu retten. Insgesamt wurde ein palliativer Ansatz als hilfreich für die erfolgreiche Umsetzung einer vorausschauenden Versorgungsplanung gesehen, da dieser eine proaktive Koordination beinhaltet. Durch zeitige Planung von Versorgungsstrategien kann somit die Vorbeugung akuter Krisen sowie die Vermeidung panikgeleiteten Handelns in ambivalenten Situationen ermöglicht werden.

Diskussion und praktische Implikationen: Gebrechliche ältere Menschen sehen sich mit gesundheitlichen Prozessen konfrontiert, die unausweichlich mit Einschränkungen und Verlusten einhergehen. Die Ergebnisse der Fokusgruppen unterstreichen, dass trotz breiterer öffentlicher Diskussion über Fragen am Lebensende auch heute noch ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Versorgungs- und Handlungsparadigmen besteht. Strukturen und Prozesse im Gesundheitssystem orientieren sich vorrangig an der Maxime, Leben durch (potenziell) kurative Behandlung zu retten oder zumindest zu verlängern; andererseits gibt es eine wachsende Sensibilisierung für den Anspruch, den Bedürfnissen und dem individuellen Wunsch gebrechlicher älterer Menschen Rechnung zu tragen. Die Ergebnisse unterstützen die Erkenntnisse früherer Studien, dass die Exploration des Patientenwunsches sowie dessen Berücksichtigung in der konkreten Situation ein vielschichtiges Geschehen ist und daher zur Verbesserung der Versorgungspraxis kritische Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen adressiert werden müssen. Die Relevanz haltungsbezogener Aspekte legt nahe, dass Modelle der Verhaltensänderung nützliche theoretische Ansätze für Interventionen bieten. Basierend auf der Erfahrung der Teilnehmenden kann ein palliativer Versorgungsansatz als zielführend auf struktureller sowie prozessualer Ebene betrachtet werden.

Projektförderung: BMBF (FKZ 01GY1120), 2012–2015