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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

„Hospiz“ und „Palliative Care“ – Assoziationen russischsprachiger Migrant_innen in der Versorgung am Lebensende und ihre Bedeutung für eine Inanspruchnahme

Meeting Abstract

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  • Silke Migala - Freie Universität Berlin, Erziehungswissenschaft und Psychologie, Berlin, Deutschland
  • Olga Bakadorova - Freie Universität Berlin, Erziehungswissenschaft und Psychologie, Berlin, Deutschland
  • Uwe Flick - Freie Universität Berlin, Erziehungswissenschaft und Psychologie, Berlin, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocP166

doi: 10.3205/15dkvf298, urn:nbn:de:0183-15dkvf2987

Published: September 22, 2015

© 2015 Migala et al.
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Hintergrund: Im Rahmen des BMBF-Projekts der Versorgungsforschung PALQUALSUM wird die Versorgungssituation russischsprachiger Migrant_innen am Lebensende untersucht, die in Deutschland eine der größten Migrantengruppen darstellen. Hinweise auf eine geringe Inanspruchnahme von Angeboten der Hospiz- und Palliativversorgung (HPV) durch unheilbar erkrankte Patient_innen und Angehörige dieser Gruppe lassen vermuten, dass bestimmte Barrieren den Zugang erschweren. Fehlende Informationen über Versorgungsangebote, nicht ausreichende Deutschkenntnisse und mangelndes Vertrauen gegenüber öffentlichen Einrichtungen werden in der Literatur als mögliche Ursachen für Barrieren beschrieben. Ob und in welcher Weise mit der Migration aus russischsprachigen Ländern verbundene Vorstellungen und Erwartungen für die Inanspruchnahme von Angeboten der HPV am Lebensende eine Rolle spielen, ist bislang weitgehend unklar.

Fragestellung: Untersucht wird unter anderem, inwiefern für eine Inanspruchnahme das subjektive Verständnis russischsprachige Patient_innen und deren Angehörige von hospizlichen bzw. palliativen Versorgungsangeboten von Bedeutung ist. Dabei interessiert uns, wie dieses aufgrund von Wissen, Informationen und Erfahrungen entsteht und welche Rolle dabei das Herkunftsland spielt. Des Weiteren soll erfasst werden, unter welchen Bedingungen sich Sichtweisen und Haltungen verändern und dadurch eine Inanspruchnahme ermöglicht wird.

Methode: In der qualitativen Studie wurden verschiedene methodische Zugänge zu den subjektiven Sichtweisen der relevanten Akteure im Feld genutzt, um die verschiedenen Perspektiven miteinander zu triangulieren. Zunächst wurden Experteninterviews (n=43) in Deutschland in der ambulanten und stationären HPV durchgeführt, um deren Perspektive zu Versorgungsanforderungen dieser Zielgruppe zu erfassen. Ferner wurden episodische Interviews mit russischsprachigen Patient_innen und Angehörigen (n=29) unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Religionszugehörigkeit durchgeführt, um deren subjektiven Sichten und Relevanzen für eine „gute“ Versorgung am Lebensende im Kontext ihrer biographischen und situativen Problemlagen darzustellen. Zusätzliche Experteninterviews (n=10) in Russland zielten darauf ab, Einblicke in den Entwicklungsstand der russischen HPV und Kenntnisse zur Inanspruchnahme vorhandener Angebote durch unheilbar erkrankte russische Patient_innen und Angehörigen am Lebensende zu erhalten. Die Auswertung der episodischen Interviews folgt der Analyse von Deutungs- und Handlungsmustern mit dem Ziel einer Typenbildung, die der Expert_innen der thematischen Vergleichsanalyse zum Zwecke der Kategorienbildung und soziologischen Konzeptualisierung, die in eine theoretische Generalisierung mündet.

Ergebnisse: Die Ergebnisse zeigen, dass für eine Inanspruchnahme der Angebote der HPV in Deutschland unter anderem bedeutsam ist, welche Assoziationen zu „Hospiz“ und „Palliative Care“ bei russischsprachigen Patient_innen und deren Angehörigen ausgelöst werden. Die Assoziationen sind teils in unterschiedlicher Weise (explizit oder implizit) mit Erfahrungen, Bildern und aktuellen Diskursen aus den Herkunftsländern (der ehemaligen Sowjetunion) verknüpft. Diese finden ihren Ausdruck in unterschiedlichen Deutungsmustern, die als Haltungen eines inneren Widerstands und Unvereinbarkeit mit Werthaltungen einerseits sowie als reflektierte Haltung andererseits bezeichnet werden können.

Die Aussagen der Expert_innen in Russland zeigen auf, inwiefern sich die palliative Versorgungssituation und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Versorgung unheilbar erkrankter Menschen in den Assoziationen der russischsprachigen Migrant_innen in Deutschland widerspiegeln.

Diskussionen: Bestimmte Assoziationen, die „Hospiz“ und „Palliative Care“ auslösen, lassen sich durch den kulturellen Hintergrund russischsprachiger Migrant_innen erklären. Für einen kultursensiblen Umgang im Vorfeld und innerhalb der HPV können die Ergebnisse für die professionellen Akteure als wichtige Informationen angesehen werden, die zum einen die Entstehung der unterschiedlichen Haltungsmuster verstehbar machen. Zum anderen zeigen sie auf, welche Möglichkeiten für den Anstoß von Veränderungsprozessen hin zu einer reflektierten Haltung bei den Betroffenen bestehen. Hierzu erscheint eine Auseinandersetzung innerhalb der Versorgungskontexte erforderlich, um den Zugang zur HPV bzw. Entscheidungsprozesse bei der Inanspruchnahme für russischsprachige Patient_innen und Angehörigen zu erleichtern.

Praktische Implikationen: Aus den Ergebnissen werden Empfehlungen sowohl für die Fortbildung der professionellen Akteure und als auch für sensible Informationen über Versorgungsangebote der HPV für russischsprachige Migrant_innen als Zielgruppe entwickelt.