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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Inanspruchnahme von Physiotherapie im Kindes- und Jugendalter – Ergebnisse aus der KiGGS-Basiserhebung

Meeting Abstract

  • Alisa Weber - Institut für soziale Pädiatrie und Jugendmedizin, München, Deutschland
  • Dieter Karch - Institut für soziale Pädiatrie und Jugendmedizin, München, Deutschland
  • Ute Thyen - Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Lübeck, Deutschland
  • Alexander Rommel - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland
  • Robert Schlack - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland
  • Heike Hölling - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland
  • Petra Rattay - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland
  • Susanne Jordan - Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin, Deutschland
  • Rüdiger von Kries - Institut für soziale Pädiatrie und Jugendmedizin, München, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocP077

doi: 10.3205/15dkvf174, urn:nbn:de:0183-15dkvf1745

Published: September 22, 2015

© 2015 Weber et al.
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Text

Hintergrund: Der populationsbezogene Einsatz von Physiotherapie bei Kindern und Jugendlichen wurde bisher ausschließlich anhand von Krankenkassendaten analysiert, die weder anamnestische noch soziale Faktoren berücksichtigen können. Mit Hilfe der KiGGS-Basisdaten ist es möglich die Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten auf Grund von elternberichteten gesundheitlichen Einschränkungen und sozialen Faktoren zu untersuchen.

Fragestellung: Entspricht die in der KiGGS-Basiserhebung berichtete Inanspruchnahme von Physiotherapie den aus Abrechnungsdaten berichteten Verordnungen? Gibt es soziale Determinanten bei der Inanspruchnahme von Physiotherapie? Welche von den Eltern berichteten Auffälligkeiten führen zur Inanspruchnahme von Physiotherapie im Kindes- und Jugendalter? Erscheint die Inanspruchnahme im Kontext des medizinischen Kenntnisstandes plausibel? Gibt es Hinweise auf eine mögliche Unter- oder Überversorgung bei bestimmten gesundheitlichen Einschränkungen? Welcher Teil der Inanspruchnahme der Physiotherapie in den letzten 12 Monaten kann durch die in der KIGGS-Basiserhebung erfassten Einflussfaktoren erklärt werden?

Methode: In der KiGGS-Basiserhebung identifizierbare Determinanten für die Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten wurden zunächst bivariat untersucht und anschließend multivariat in logistischen Regressionsmodellen überprüft. Folgende Determinanten wurden berücksichtigt: soziodemographische Faktoren wie z.B. Migrationshintergrund, frühkindliche Faktoren wie z.B. Entwicklungsverzögerung, erworbene Faktoren wie z.B. Rückenschmerzen und psychische Auffälligkeiten wie z.B. ADHS-Diagnose. Der Anteil an der Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten, welcher durch diese Determinanten erklärt werden kann, wurde mittels populationsattributabler Risikofraktion geschätzt.

Ergebnisse: Die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten bei den 0–17 Jährigen in der KiGGS-Basiserhebung betrug 6,4 %. Der sozioökonomische Status der Eltern war nicht mit der Inanspruchnahme von Physiotherapie assoziiert. Ein Migrationshintergrund verringerte die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten z.B. bei Grundschülern (ORadjustiert: 0,35 [95 % KI: 0,13 - 0,99]), auch nach Adjustierung für weitere soziodemographische Determinanten und gesundheitliche Einschränkungen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Skoliose, die eine Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten berichteten, war im Säuglingsalter fast doppelt so hoch wie bei Jugendlichen (58,4 % versus 33,4 %). Nur bei 3–6 jährigen Kindern war die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten bei Kopfschmerzen erhöht (ORadjustiert: 1,96 [95 % KI: 1,25–3,08]). Maximal 15 % der Kinder und Jugendlichen mit Rückenschmerzen berichteten eine Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten. Bei diagnostiziertem ADHS im Vorschulalter (ORadjustiert: 3,29 [95 % KI: 1,00–10,73]) war die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten erhöht. Während bei den 0–2 Jährigen die in der KiGGS-Basiserhebung erfassten gesundheitlichen Einschränkungen die Inanspruchnahme zu 37 % erklären konnten, lag dieser Anteil in den anderen Altersgruppen bei 55–64 %.

Diskussionen: Die in der KiGGS-Basiserhebung berichtete Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten entspricht den Daten aus den Erhebungen der Krankenkassen. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund werden weniger mit Physiotherapie behandelt als Kinder ohne Migrationshintergrund. Bei der juvenilen Skoliose und bei Kindern und Jugendlichen mit Rücken- und Kopfschmerzen ist das Potential der Physiotherapie möglicherweise noch nicht vollständig ausgeschöpft. Die Komorbidität mit motorischen Koordinationsstörungen könnte die vermehrte Inanspruchnahme von Physiotherapie in den letzten 12 Monaten bei Kindern mit diagnostiziertem ADHS erklären. Die geringe Erklärbarkeit der Inanspruchnahme in der Altersgruppen 0–2 Jahre wirft die Frage auf, auf Grund welcher weiteren Indikationen in dieser Altersgruppe Physiotherapie verschrieben wird.

Praktische Implikationen: Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sollte in Bezug auf die Versorgung von Physiotherapie eventuell der Zugang zum Gesundheitssystem erleichtert werden. Bei Rücken- und Kopfschmerzen sowie Skoliose sollte die Indikation zur physiotherapeutischen Versorgung möglicherweise großzügiger gestellt werden. Bei der Verordnung von Physiotherapie im Zusammenhang mit ADHS im Vorschul- und Grundschulalter sollte überprüft werden, ob dieser tatsächlich eine Komorbidität mit motorischen Koordinationsstörungen zugrunde liegt oder ob weitere, nicht in der KiGGS-Basiserhebung erhobene Faktoren hierbei relevant sind.