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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Selbstmanagementförderung, Gesundheitskompetenz und Chancengleichheit bei chronischer Krankheit: Ergebnisse einer «multiple method» Studie

Meeting Abstract

  • Jörg Haslbeck - Careum Stiftung, Careum Forschung, Zürich, Schweiz
  • Sylvie Schumacher - Careum Stiftung, Careum Forschung, Zürich, Schweiz
  • Manuela Eicher - Hochschule für Gesundheit Freiburg, Fribourg, Schweiz
  • Peter Johannes Schulz - Universität Lugano, Institute for Communication and Health, Lugano, Schweiz

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV67

doi: 10.3205/15dkvf101, urn:nbn:de:0183-15dkvf1012

Published: September 22, 2015

© 2015 Haslbeck et al.
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Text

Hintergrund: Selbstmanagementförderung hat angesichts der Bedeutungszunahme chronischer Krankheiten und von Multimorbidität hohe Relevanz. Ausreichende Gesundheitskompetenz wird wiederum in Zusammenhang mit erfolgreicher Krankheitsbewältigung und effizienter Nutzung von Versorgungsleistungen gesehen [1]. Daher wird v. a. für Menschen mit Mehrfacherkrankungen aber auch sozial benachteiligte Gruppen ein besserer Zugang zu verständlichen Gesundheitsinformationen sowie Motivations- und Kompetenzförderung gefordert. In diese Richtung zielt das international etablierte Chronic Disease Self-Management Program (CDSMP), ein evidenzbasiertes krankheitsübergreifendes Kursangebot der Stanford Universität [2]. Es wird überwiegend von speziell ausgebildeten «peers» geleitet, die mit chronischer Krankheit leben oder ähnliche Lebenserfahrungen gemacht haben. Dieser Stanford Ansatz wurde 2010–2011 für das deutschsprachige Europa und die Schweiz als Kursprogramm „Gesund und aktiv leben“ (Evivo) adaptiert und ab 2012 implementiert.

Fragestellung: Die vorliegende Studie untersuchte, ob die kulturell angepasste Version bzw. der „peer“-Ansatz umsetzbar sind und bei den Teilnehmenden auf Akzeptanz stossen. Ferner wurde exploriert, ob der adaptierte Ansatz mit Menschen mit Migrationshintergrund durchführbar ist und welchen Nutzen sie daraus ziehen.

Methoden:2012–2014 wurde eine zweiarmige „multiple method“ Studie durchgeführt. Neben einer (I) schriftlichen Befragung in 35 Kursen zu drei Erhebungszeitpunkten (n=327) wurden (II) acht Fokusgruppen- und drei Einzelinterviews (n=56) durchgeführt. Zusätzlich erfolgten drei Fokusgruppen und vier Einzelinterviews mit 22 Migrantinnen als Kursteilnehmerinnen und -leitungen. Die Daten wurden deskriptiv statistisch bzw. thematisch ausgewertet.

Ergebnisse: Teilgenommen haben Personen mit muskuloskelettalen, Herzkreislauf- und Stoffwechsel- sowie psychischen Krankheiten (90% weiblich, 87% selbst erkrankt, 13% Angehörige, Durchschnittsalter knapp 60 Jahre, min-max: 33–83 J.). Befunde der schriftlichen Befragung unterstreichen die ausserordentlich hohe Zufriedenheit mit dem Kurs an sich und den Kursleitungen, die Alltagsrelevanz und Vertrauenswürdigkeit der Inhalte sowie Angemessenheit von Struktur, Zeitrahmen und Sitzungsabfolge. Es zeigte sich auch eine positivere Selbstwahrnehmung der Motivation, der Zuversicht und des eigenen Verhaltens im Umgang mit der Krankheit sowie der Selbstwirksamkeit. Demgegenüber wurden Kursstruktur, Zeitrahmen bzw. Themenpalette in den Fokusgruppen teils kontrovers diskutiert und bspw. als restriktiv empfunden. In beiden Studienarmen wurde der „peer“-Ansatz als wesentliches Element identifiziert, der Teilnehmende unterstützt und motiviert, die Krankheit(en) zu akzeptieren, den eigenen Handlungsspielraum beim Selbstmanagement zu entdecken oder Verhalten zu ändern. Auch bei Migrantinnen ist der Kurs auf grosse Resonanz gestossen und die vermittelten Selbstmanagementtechniken wurden positiv aufgegriffen (z. B. Ziele setzen, Handlungen planen). Trotz hohem Alltagsnutzen stellt der Kurs für diese Gruppe ein sprachlich anspruchsvolles Übungsfeld dar und ist mit administrativem Mehraufwand verbunden.

Diskussion: Das CDSMP dürfte mit seiner niederschwelligen, patientenzentrierten und krankheitsübergreifenden Ausrichtung eine der wenigen auf Multimorbidität ausgerichteten Interventionen sein. Das adaptierte Kursprogramm könnte dazu beitragen, die Gesundheitskompetenz von chronisch (mehrfach) erkrankten Menschen und sozial benachteiligten Gruppen zu fördern. Dafür braucht es einen verstärkt zielgruppenspezifischen Zuschnitt des Stanford Modells und weitere Forschungsaktivitäten, damit es sein Potenzial bei vulnerablen Gruppen besser entfalten kann und die sozialen Auswirkungen des CDSMP sichtbar werden.

Praktische Implikationen: Das für das deutschsprachige Europa adaptierte Stanford Modell und insbesondere sein «peer»-Ansatz können bestehende Versorgungsleistungen im ambulanten und stationären Sektor sinnvoll ergänzen. Wird es mit bestehenden krankheitsspezifischen Ansätzen der Patientenedukation oder den Aktivitäten der Selbsthilfe verknüpft und breit umgesetzt, kann es einen wertvollen Beitrag leisten, die Gesundheitskompetenz, Lebensqualität und das Wohlbefinden bei chronischen (Mehrfach-)Erkrankungen zu verbessern. Daher ist ein nächster Schritt, es auch für vulnerable Gruppen und Menschen mit Migrationshintergrund anzupassen.


Literatur

1.
WHO. Health literacy – The solid facts. Copenhagen: World Health Organization Regional Office for Europe; 2013.
2.
Brady TJ, Murphy L, O’Colmain BJ, et al. A meta-analysis of health status, health behaviors, and healthcare utilization outcomes of the Chronic Disease Self-Management Program. Prev Chronic Dis. 2013;10:120112.