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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Barrieren der Inanspruchnahme von Leistungen der Adipositasprävention und –intervention im Vorschulalter: Eine gemischt-methodische Studie

Meeting Abstract

  • Florian Junne - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Stefanie Decker - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Robert Enzensberger - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Rebecca Erschens - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Isabelle Mack - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Monika A. Rieger - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Stephan Zipfel - Medizinische Universitätsklinik Tübingen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tübingen, Deutschland
  • Stefan Ehehalt - Gesundheitsamt Stuttgart, Kinder-, Jugend- und Zahngesundheit, Gesundheitsförderung, Soziale Dienste, Stuttgart, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV59

doi: 10.3205/15dkvf006, urn:nbn:de:0183-15dkvf0062

Published: September 22, 2015

© 2015 Junne et al.
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Text

Hintergrund: Das Vorschulalter ist für die Adipositasprävention u. -intervention von hoher Bedeutung, da sich Übergewicht (ÜG) und Adipositas (AD) mit Eintritt in das Schulalter verstärkt ausprägen. Laut Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA 2012) liegt zur Versorgungslage für Kinder mit Übergewicht (ÜG) oder Adipositas (Ad) in dieser Altersgruppe keine ausreichende Evidenz zur Versorgungslage vor. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorgelegten Studie mittels eines gemischt-methodischen Ansatzes die Versorgungssituation sowie die Barrieren zur Inanspruchnahme von Leistungen der Adipositasprävention u. –intervention bei Eltern von betroffenen Kindern untersucht.

Fragestellung: Teilprojekt A (quantitativ): 1. Welche Leistungserbringer/Angebote zur Adipositasprävention und –intervention werden in welcher Frequenz von Eltern von betroffenen Vorschulkindern in Anspruch genommen. 2. Welche nachfrageseitigen Determinanten/Barrieren der Inanspruchnahme (Art und Frequenz) existieren?

Teilprojekt B (qualitativ): Welche Barrieren zur Inanspruchnahme und welche Barrieren der Umsetzung von Beratung, Begleitung und Intervention bestehen bei Eltern von betroffenen Vorschulkindern?

Methoden: Teilprojekt A (quantitativ): Querschnittliche Studie der Versorgungsepidemiologie im Rahmen der Einschulungsuntersuchung im Gesundheitsamt Stuttgart (gesamter Jahrgang). Befragung zu Inanspruchnahmeverhalten von Eltern von ÜG/Ad-betroffenen Vorschulkindern (≥90. Perzentil). Explorative Analysen zu (gruppen-) differenziellem Inanspruchnahmeverhalten von Angeboten der Adipositasprävention und –behandlung sowie Identifikation von Determinanten des Inanspruchnahmeverhaltens mittels multivariater logistischer Regression. Teilprojekt B (qualitativ): Leitfaden gestützte semi-strukturierte Einzelinterviews mit Eltern von betroffenen Vorschulkindern. Rekrutierung im Rahmen der Einschulungsuntersuchung im Gesundheitsamt Stuttgart. Einschluss: Eltern von Kindern mit ÜG/Ad (BMI ≥90. Perz.). Induktive Kategorienentwicklung und zusammenfassende Inhaltsanalyse des Transkriptionsmaterials nach Mayring mittels MAXQDA-Software. Modellentwicklung zu Barrieren der Inanspruchnahme entlang motivationaler Phasen nach Prochaska und DiClemente.

Ergebnisse: Teilprojekt A (quantitativ): 4.830 zur Studienteilnahme eingeladenen Eltern (gesamter Einschulungsjahrgang 2013/14 der Stadt Stuttgart), n = 1.318 Teilnehmer (RR: 27,3%), n = 92 Kinder davon ÜG-/Ad-betroffen (6,9%). 66,7% der Eltern hatten noch nie nach Informationen zum Thema ÜG/Ad gesucht; 78,6% haben noch nie Leistungen bzgl. ÜG/Ad des Kindes in Anspruch genommen. Analysen zur Aufklärung der Determinanten der Inanspruchnahme stehen zur Präsentation im Rahmen des Kongresses zur Verfügung.

Teilprojekt B (qualitativ): N = 20 Eltern wurden randomisiert ausgewählt aus 83 Respondern auf die Einladung zum Interview (aus n = 93 Betroffenen in der Studienpopulation) unter Berücksichtigung der Strata Migration (n=12), ÜG-positive-Familienanamnese (n=15), Einkommen (n=3 für Haushaltseinkommen <2000€ netto). Ergebnisse der Inhaltsanalyse wurden zu „Phasenmodell kognitiver Handlungsbarrieren“ zusammengefasst, strukturiert in Anlehnung an motivationale Phasen nach Prochaska & DiClemente. Als zentral bedeutsame Barriere zeigte sich das Problembewusstsein der Eltern von betroffenen Kindern in Verbindung mit den Dimensionen Problemgewichtung bzw. –relativierung. Zusammen mit informationalen Barrieren (konkreter Kenntnisstand der Eltern zum Thema) prägten diese entscheidenden Barrieren bereits die frühe motivationale Phase. In späteren motivationalen Phasen zeigten sich z.B. die Barrieren „Zufriedenheit mit bereits ergriffenen (insuffizienten-) Maßnahmen“ und „fehlender Leidensdruck“ als kognitive Barrieren.

Diskussion: Die quantitativen (versorgungsepidemiologischen) Ergebnisse zeigen eine geringe Inanspruchnahme von präventiven und interventionellen Maßnahmen durch Familien von ÜG-/Ad-betroffenen Vorschulkindern. Die qualitativen Analysen zeigen stark wirksame kognitive Barrieren in frühen motivationalen Phasen der Eltern. In theoretischer Hinsicht erlauben die Ergebnisse erste Hypothesen bzgl. der bislang fehlender (expliziter) motivationaler Dimensionen im Rahmen des Inanspruchnahme-Modells nach Anderson (2013).

Praktische Implikationen: Die quantitativen und qualitativen Ergebnisse enthalten vielfältige spezifische Hinweise für die Entwicklung von Aufklärungsprogrammen/-materialien, Hinweise für die Eltern-Leistungserbringer Kommunikation und das Design von künftigen Modellprojekten der Versorgung von Betroffenen. Insbesondere die phasenspezifische Adressierung der motivationalen Stufen von Eltern von Betroffenen kann als entscheidendes Instrument zur Verbesserung von (fortgesetzter) Inanspruchnahme angenommen werden. Die Ergebnisse der Studie fließen ein in die aktuell laufende Entwicklung des Stuttgarter Stufenmodell Adipositasprävention und –intervention im Kindes- und Jugendalter unter Federführung des Gesundheitsamtes Stuttgart.