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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Ältere türkische Patient_innen im deutschen Gesundheitssystem

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Hanna Hiltner - Lehrbereich Allgemeinmedizin, Tübingen, Germany
  • Manfred Eissler - Lehrbereich Allgemeinmedizin, Tübingen, Germany
  • Christina Werner - Institut für vergl. Bildungsforschung & Sozialwissenschaften, Köln, Germany
  • presenting/speaker Andrea Kronenthaler - Lehrbereich Allgemeinmedizin, Tübingen, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO2-3-09-39

doi: 10.3205/13dkvf209, urn:nbn:de:0183-13dkvf2097

Published: October 25, 2013

© 2013 Hiltner et al.
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Text

Hintergrund: Für türkische Migrant_innen der ersten Gastarbeitergeneration ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland ein zentraler Aspekt im Alter in Deutschland zu bleiben. Mit welchen Erfahrungen diese Entscheidung verknüpft ist, wird im Folgenden vorgestellt.

Methodik: In einem Forschungsprojekt zu Pflegevorstellungen älterer türkischer Migrant_innen in Deutschland wurden 12 problemzentrierte Interviews in türkischer Sprache geführt. Die Transkripte wurden inhaltsanalytisch nach Mayring ausgewertet. Die dargestellten Ergebnisse generieren sich speziell aus dem Teilaspekt Erfahrungen im deutschen Gesundheitssystem.

Ergebnisse: Die befragten türkischen Migrant_innen erfahren eine ambivalente Behandlung im deutschen Gesundheitssystem, wodurch sie dieses unterschiedlich bewerten.

Sie schätzten formal-strukturelle Aspekte wie Ordnung, klare Behandlungsregeln und Kostenübernahme durch die Versicherung. Positiv erlebt wird die Berücksichtigung spezieller Wünsche z.B. bei Essensgewohnheiten oder bezüglich des Geschlechts des_der behandelnden Ärzt_in:

Hier kannst du eine Frau verlangen und bekommst es. Geben sie dir dann. Die schreiben alles was du essen willst auf, geben dir kein Schweinefleisch.(Int 18, 149-151) Diese garantiert formal eine individuell abgestimmte, gute Versorgung und Gleichbehandlung aller Patient_innen. Verstärkt wird dies für die Befragten, wenn türkisch-sprachiges Personal in die Versorgung eingebunden ist. Das Arzt-Patient-Verhältnis in Deutschland wird als weniger hierarchisch strukturiert als in der Türkei wahrgenommen. Einen Vergleich mit der türkischen Gesundheitsversorgung lehnen die Interviewpartner_innen aufgrund ihrer überwiegenden Aufenthaltsdauer in Deutschland (durchsch. 39,4 Jahre) weitgehend ab. Problematisch empfinden sie lange Wartezeiten, eine unzureichende Aufklärung über Gesundheitsprobleme bzw. Symptome sowie eine mangelnde oder unzureichende Diagnose:Sie sagen nicht, du hast dieses und dieses Problem. Du musst operiert werden und das muss gewechselt werden. Sagen sie nicht. Sagen mir ja nichts, haben mich ein Jahr leiden lassen und erst dann was gesagt.(Int 15,78) Unabhängig von der tatsächlichen Möglichkeit, jede gesundheitliche Belastung direkt und eindeutig zu diagnostizieren, verdeutlicht das Zitat, dass dem Patient nicht das Gefühl von ernsthafter, verständlicher Informationsweitergabe vermittelt wurde. Das Gefühl von Diskriminierung entsteht insbesondere, wenn mangelnde Informationen mit abschätzigem zwischenmenschlichem Verhalten seitens des medizinischen Personals verbunden ist: Ich will kein fremdes Blut. Das kann AIDS haben. Das gibt es nicht in Deutschland, meinten sie. Doch gibt es. Bin ich Blind oder Schwerhörig. Sie haben es in den Nachrichten gezeigt. Der Herr Doktor, wollte sich das nicht gefallen lassen. Sowas gibt es in Deutschland nicht. Das gibt es nur bei eurem Land, sagen sie noch.(Int 23, 141) Der Wunsch als gleichberechtigte Mitbürger_innen anerkannt zu werden, ist der Kern der Ablehnungserfahrung und des Gefühls, nicht menschlich behandelt zu werden: die Krankenschwester. Sie ist gegangen und ich habe geklingelt. Sie hat es mir hingelegt und gesagt, mach es selber. Sie ist gekommen und hat gesagt, was gibt es. Rede respektvoll, habe ich gesagt, ich bin auch ein Mensch.(Int 15, 182) Nötig sind daher Versorgungsstrukturen, die eine gleichberechtige Behandlung aller Patient_innen garantiert, was bedeutet flexibel auf gender-, sozial- und kulturspezifische Versorgungsaspekte reagieren zu können.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die Ergebnisse zeigen positive wie negative Erfahrungen von älteren türkischen Migrant_innen im deutschen Gesundheitssytem, die sich nicht zwangsläufig von denen anderer Personengruppen unterscheiden. Eine spezifische Betrachtung ist unerlässlich, um bei negativen Erfahrungen generalisierenden Lösungsansätzen zu vermeiden. Einer umfassende Versorgung von türkischen Migrant_innen kämen gemäß der obigen Darstellung folgende Verbesserungen zu Gute: Die Förderung von mehrsprachigem Personal erleichtert die Verständigung, nicht nur aus rein sprachlicher Perspektive. Aufgrund der stärker kollektiv-orientierten Sozialstruktur der Zielgruppe könnte der verständnisvolle Einbezug von Familienangehörigen in den Behandlungsprozess zu einer besseren Compliance führen. Eine besondere Sensibilität gegenüber den (gesundheitlichen) Bedürfnissen der Migrant_innen in der Diagnosemitteilung, der Aufklärung und der Behandlung ist erforderlich um diskriminierende bzw. von den Patient_innen als diskriminierend empfunden Situationen vorzubeugen. Diese wünschen keine Sonderbehandlung, sondern aufrichtiges, einfühlsames Interesse für ihre, nicht nur kulturell geprägten, Bedürfnisse. Auch wenn diese in dem speziellen Lebenskontext einer vulnerablen Bevölkerungsgruppe betrachtet werden müssen, ist für die Betroffenen wichtig, dass keine Abgrenzung von anderen Mitbürger_innen geschaffen wird, sondern sie im deutschen Gesundheitssystem eine gleichberechtigte, menschliche, sozial- und kultursensible Behandlung erfahren.