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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Evidenzbasierte Leitlinien als Qualitätsmaßstab? Erfahrungen aus einem HTA-Projekt zur fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Katrin Balzer - Institut für Sozialmed. und Epid., Universität zu Lübeck, Lübeck, Germany
  • presenting/speaker Stefanie Butz - Institut für Sozialmed. und Epid., Universität zu Lübeck, Lübeck, Germany
  • Dagmar Lühmann - Institut für Allgemeinmedizin, UKE, Hamburg, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO2-3-05-275

doi: 10.3205/13dkvf206, urn:nbn:de:0183-13dkvf2065

Published: October 25, 2013

© 2013 Balzer et al.
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Hintergrund: Die Qualität der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland steht seit geraumer Zeit in der Diskussion [1], [2]. Im Rahmen eines vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) beauftragten Health Technology Assessment (HTA) galt es zu untersuchen, inwieweit es Belege für eine Unter-, Fehl- oder Überversorgung von Heimbewohnern mit fachärztlichen Leistungen gibt [3].

Methodik: In Ermangelung an Daten zum kausalen Zusammenhang zwischen Merkmalen der fachärztlichen Versorgung und der bewohnerbezogenen Ergebnisqualität wurde die Forschungsfrage mittels Vergleich von Daten zur Inanspruchnahme fachärztlicher Leistungen (Ist) mit Empfehlungen aus evidenzbasierten, konsentierten Leitlinien (Soll) untersucht.

Für diesen Vergleich wurden die Krankheitsbilder Demenz und Diabetes mellitus Typ 2 ausgewählt, da sie folgende a priori definierten Kriterien erfüllten: i) berichtete Prävalenz ≥30 % in der Zielpopulation, ii) Daten zur Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen speziell für Bewohner mit diesem Krankheitsbild verfügbar (Studien aus Deutschland, Zeitraum 2000 bis 2011) und iii) aktuelle evidenzbasierte, konsentierte Leitlinien zur Behandlung dieses Krankheitsbilds im deutschen Versorgungskontext vorliegend. Die versorgungsepidemiologischen Informationen und Leitlinienempfehlungen wurden mit den Methoden systematischer Übersichtsarbeiten recherchiert, ausgewählt, kritisch bewertet und zusammengeführt. Die Synthese der extrahierten Informationen und die Gegenüberstellung von Soll und Ist erfolgten strukturiert-narrativ.

Ergebnisse: Die Bewertung der fachärztlichen Versorgung von Bewohnern mit Demenz stützt sich auf fünf Studien (Median n=304 Bewohner, Validität von 4/5 Studien stark limitiert) und zwei Leitlinien (DEGAM 2008, DGPPN 2009). Der Soll-Ist-Vergleich weist auf eine inadäquate Versorgung in folgenden Bereichen hin: ungenaue Diagnostik der kognitiven Einschränkungen (Unter- und Fehlversorgung), Unterversorgung mit Antidementiva und Heilmitteln sowie Fehlversorgung mit Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika.

Basis der Bewertung der fachärztlichen Versorgung bei Diabetes mellitus Typ 2 sind vier Studien (Median n=100 Bewohner, Validität aller Studien stark limitiert) sowie vier Module der Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes (Netzhaukomplikationen, Fußkomplikationen, Nephropathie und Neuropathie). Die meisten Empfehlungen sind an bestimmte medizinische Befunde gebunden, zu denen die verfügbaren Studien keine Informationen enthalten. Deshalb konnte lediglich die Häufigkeit augenärztlicher Kontrollen zur Vermeidung von Netzhautkomplikationen bewertet werden. Für diese fachärztliche Leistung wurde eine Unterversorgung festgestellt.

Die Aussagekraft des Soll-Ist-Vergleichs ist für beide Krankheitsbilder eingeschränkt. Die Unsicherheiten betreffen sowohl den Zähler als auch den Nenner der beobachteten bzw. zu erwartenden Häufigkeit der Inanspruchnahme. Auf der Ist-Seite limitieren Unsicherheiten bei der Erfassung der ärztlichen Leistungen die Validität des Zählers, während der Nenner unter anderem durch fragliche Stichprobenrepräsentativität und hohes Confounding-Risiko unscharf ist. Hinzu kommt die insgesamt geringe Studienanzahl. Auf der Soll-Seite ergeben sich die Unsicherheiten im Zähler aus oft schwachen Empfehlungsstärken (aufgrund unzureichender Evidenzlage) und mitunter inkonsistenten Empfehlungen, während nennerseitig eine unzureichende Berücksichtigung der Multimorbidität und Gebrechlichkeit hochbetagter Menschen in den Leitlinien den Soll-Ist-Vergleich limitiert.

Diskussion/Schlussfolgerung: Durch den Vergleich versorgungsepidemiologischer Daten mit korrespondierenden Leitlinienempfehlungen konnten Bereiche der Unter- und Fehlversorgung bei Bewohnern mit Demenz oder Diabetes mellitus Typ 2 identifiziert werden. Diverse Unsicherheiten auf der Ist- und der Soll-Seite lassen es jedoch nicht zu, das Ausmaß und die bewohnerbezogenen Folgen der diagnostizierten Versorgungsdefizite zu beziffern. Hierfür sind zum einen evidenzbasierte Qualitätsindikatoren erforderlich, die die Besonderheiten gebrechlicher, mehrfach erkrankter Populationen berücksichtigen, zum anderen mehr und aussagekräftigere versorgungsepidemiologische Daten.


Literatur

1.
Hallauer et al. SÄVIP - Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen. Vincentz Network Marketing Service. 2005.
2.
Rothgang, et al. GEK-Pflegereport 2008. Schwerpunktthema: Medizinische Versorgung in Pflegeheimen. Asgard-Verlag; 2008.
3.
Balzer K, et al. Beschreibung und Bewertung der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland. 1. Aufl. Health Technology Assessment. 2013;125