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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Dann wirst du bekloppt, weil du von Nutella träumst: Wie erleben Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Essen und Ernährung?

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Alexander Palant - Institut für Allgemeinmedizin, Göttingen, Germany
  • Janka Koschack - Institut für Allgemeinmedizin, Göttingen, Germany
  • Gabriele Lucius-Hoene - Institut für Psychologie, Freiburg, Germany
  • Michael Karaus - Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende, Göttingen, Germany
  • Wolfgang Himmel - Institut für Allgemeinmedizin, Göttingen, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO2-1-06-206

doi: 10.3205/13dkvf187, urn:nbn:de:0183-13dkvf1873

Published: October 25, 2013

© 2013 Palant et al.
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Text

Hintergrund: Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind die beiden häufigsten chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Etwa 300.000 Menschen in Deutschland leben mit einer der beiden Diagnosen. Zu den Symptomen gehören unter anderem Bauchschmerzen, Durchfall (in einigen Fällen mit Blut im Stuhl), Erbrechen und Gewichtsverlust. Zu den Besonderheiten der Erkrankung gehört die Tatsache, dass ein zentraler Bereich des Alltags und sozialen Lebens - Essen und Ernährung - häufig eingeschränkt ist. Kaum bekannt ist, wie Betroffene diese Einschränkungen erleben und inwieweit medizinisch-diätetische Empfehlungen dabei hilfreich sind.

Methodik: Das zugrunde liegende Datenmaterial sind 40 narrative Interviews, die im Rahmen des Projektes www.krankheitserfahrungen.de [1, 2] geführt wurden. Menschen mit CED wurden - im Sinne maximaler Variation - über verschiedene Zugangswege (Praxen, Krankenhäuser, Zeitungsinserate, soziale Netzwerke etc.) und mit Rückkoppelung eines Beratergremiums rekrutiert. In einem offenen Setting berichteten sie über ihre Erfahrungen mit der Erkrankung. Die selbst-initiierten Themen der Interviewpartner wurden per internen Nachfragen detailliert exploriert [3]. Die Auswertung erfolge mit Hilfe der Methode "OSOP" (one sheet of paper) der DIPEx Research Group Oxford [4]. Dabei werden alle intra- und interindividuell genannten Aspekte eines Themas notiert. Diese Struktur sichert eine vollständige Übersicht und erlaubt im anschließenden Schritt unterschiedliche Erfahrungen der Befragten zusammenzufassen und zu systematisieren.

Ergebnisse: Alle Interviewpartnerinnen und -partner haben selbstinitiativ über - Essen und Ernährung - als für sie wichtige, zumeist leidvolle Themen ausführlich berichtet. Besonders belastend war die Ungewissheit bezüglich Art und Umfang des Essens und Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme. Frustrierend für viele Befragte war die Erfahrung, sich streng an Diätvorschriften gehalten zu haben und dennoch unter starkem Durchfall, Blutungen oder gar neuen Schüben zu leiden. Für viele war Essen nicht mehr ein angenehmes Erlebnis, sondern zu einer qualvollen Angelegenheit geworden. In Einzelfällen wurde sogar versucht auf das Essen, soweit möglich, gänzlich zu verzichten, da die Nahrungsaufnahme zu unmittelbaren Beschwerden führte. Einige Betroffenen wurden von ihren Lieblingsgerichte bis in den Schlaf verfolgt oder sie "sündigten" hin und wieder, indem sie bewusst Lebensmitteln zu sich nahmen, die sie nicht vertragen - selbst wenn das z. T. erhebliche Folgewirkungen, bis hin zu Krankenhausaufenthalten hatte. Immer wieder war Kritik an professioneller Ernährungsberatung zu hören; einige Interviewpartner berichteten aber auch von guten Erfahrungen mit Diätassistenten oder entsprechenden Essensbroschüren. Nahezu einig waren sich die Interviewpartner darin, dass es letztlich keine spezifische Diät für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen gibt; man müsse selbst herausfinden, was man gut und was man schlecht verträgt.

Diskussion/Schlussfolgerung: Ernährung und Essen sind auch bei CED eine sehr emotionale Erfahrung. Statt Lust, Geselligkeit oder Entspannung, erleben die Betroffenen aber eine fundamentale Ungewissheit. Medizinische Beratung und Broschüren scheinen darauf nicht ausreichend vorbereitet zu sein und nicht ausreichend Unterstützung zu bieten. Daher könnte es hilfreich sein, Betroffene frühzeitig darauf vorzubereiten, dass sie in der Regel selbst und immer wieder neu herausfinden sollten, was und wann sie bestimmte Lebensmittel gut bzw. schlecht vertragen, selbst wenn dies durchaus im Widerspruch zu Leitlinien und Ratgebern stehen kann. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass eine "richtige" Ernährung nicht unbedingt den Krankheitsverlauf positiv beeinflusst, wie umgekehrt eine gelegentlich "falsche" Ernährung den Krankheitsverlauf nicht wesentlich verändert. Auch Wege, die emotionale und soziale Funktion des Essens mit der Krankheit in Einklang zu bringen, sollte Thema einer Ernährungsberatung sein.