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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Wohnen mit Intensivbetreuung (WmI) – Evaluation eines Modellprojektes für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Karin Wolf-Ostermann - Alice Salomon-Hochschule Berlin, Berlin, Germany
  • Sabrina Naber - Alice Salomon-Hochschule Berlin, Berlin, Germany
  • Johannes Gräske - Alice Salomon-Hochschule Berlin, Berlin, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocPO1-1-10-90

doi: 10.3205/13dkvf168, urn:nbn:de:0183-13dkvf1684

Published: October 25, 2013

© 2013 Wolf-Ostermann et al.
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Text

Hintergrund: In der Versorgung von Menschen mit Behinderungen ist in Deutschland immer noch überwiegend die Institutionalisierung vorherrschend. Nur wenige Leistungsanbieter haben sich bisher von einer stationär geprägten Denkweise distanziert und bieten Betroffenen alternative Wohnformen an. Dies steht im Gegensatz zu den internationalen Entwicklungen. Im Jahre 2009 wurde deshalb das Modellprojekt "Wohnen mit Intensivbetreuung (WmI)" initiiert, das eine ambulante Langzeitversorgung von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und schweren (Mehrfach-) Behinderungen vorsieht. Das Pilotprojekt WmI ermöglicht es erstmals im deutschsprachigen Raum, Menschen mit schweren/mehrfachen Behinderungen aus einem stationären Dauerwohnen in eine ambulant betreute Wohnform mit Intensivbetreuung umzuziehen. Das WmI besteht aus insgesamt 34 barrierefreien Einzelappartements an zwei Standorten in Berlin. Ziel der Studie ist die Evaluation des Umzuges hinsichtlich des Einflusses auf bewohnerbezogene Parameter wie Lebensqualität, Alltagsfähigkeiten oder soziale Teilhabe.

Methodik: In einer prospektiven Längsschnittstudie (2009-2012) wurden Bewohner/innen eines stationären Dauerwohnens mittels standardisierten face-to-face Interviews über insgesamt 18 Monate (vor Umzug, 6, 12 und 18 Monate nach Umzug) befragt. Die Interviews gliedern sich in Selbsteinschätzungen durch die Bewohner/innen sowie Fremdeinschätzungen durch die Mitarbeiter/innen der Einrichtung; ergänzend werden Patientenakten sowie computergestützte Dokumentationsquellen herangezogen. Hauptzielkriterien sind die empfundene Behinderung/Teilhabe (WHODAS II), Alltagsfähigkeiten (EBI) sowie die allgemeine (WHOQoL-Bref) und die gesundheitsbezogene Lebensqualität (EQ-5D) der Bewohner/innen. Neben allgemeinen soziodemografischen Angaben werden ergänzend Angst und Depression (HADS-D), Komorbidität (CIRS-G), Hilfebedarf (HMBW) sowie soziale Kontakte und Alltagsaktivitäten der Bewohner/innen erhoben.

Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgt unter Verwendung deskriptiver, explorativer und induktiver statistischer Verfahren mithilfe des Programms SPSS (Version 20.0). Neben deskriptiven statistischen Verfahren finden Varianzanalysemodelle (ANCOVA-Modelle) sowie Modelle mit gemischten Effekten (Mixed Models) Verwendung. Alle Signifikanzprüfungen erfolgen zum Niveau 5% (p < 0,05).

Ergebnisse: Es wurden 40 Bewohnerinnen (26 Männer, 14 Frauen, Durchschnittsalter 46 Jahre) in die Studie eingeschlossen. Die Teilnehmer/innen sind überwiegend in die Hilfebedarfsstufe vier (hoher Hilfebedarf) eingestuft, 90% der Teilnehmer/innen unterliegen einer gesetzlichen Betreuung. 29 Teilnehmer/innen zogen in WmI-Standorte (WmI-T, n=15 / WmI-P, n=14), eine Gruppe verblieb im stationären Dauerwohnen (FDH, n=11). Unter Einbeziehung der Einflussfaktoren Alter, Geschlecht, Hilfebedarfsgruppe, Komorbidität (CIRS-G), Auskunftsfähigkeit, Wohnort sowie Wechselwirkungen zwischen den Einflussfaktoren Wohnort und Zeitpunkt lässt sich ein signifikanter Einfluss der Zeitpunkte auf die empfundene Behinderung nachweisen (p=0,028). Im Mittel steigt dabei die empfundene Behinderung mit zunehmendem Zeitverlauf Die Alltagsfähigkeiten verändern sich nicht nachweisbar über die Zeit oder unterschiedlich zwischen den Standorten. Auch die empfundene allgemeine Lebensqualität verändert sich nicht nachweisbar über die Zeit. Die berichtete gesundheits¬bezogene Lebensqualität verändert sich allerdings an den verschiedenen Wohnorten unterschiedlich im Zeitverlauf. Es existieren im Trend statistisch signifikante Wechselwirkungen zwischen Zeitpunkt und Wohnort bezüglich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (p=0,053). Während die Werte für Teilnehmer/innen aus dem stationären Wohnen im Mittel nahezu unverändert bleiben, verschlechtern sich die Werte im WmI-T im Mittel wohingegen sie sich im WmI-P verbessern. Alltagsaktivitäten nehmen in beiden WmI-Standorten in Zeitverlauf deutlich zu.

Diskussion/Schlussfolgerung: Der Umzug aus dem stationären Dauerwohnen in eine alternative ambulante Wohnform resultiert trotz erheblicher Veränderungen in der persönlichen Lebenssituation der Studienteilnehmer/innen nicht in einer Verschlechterung sozialer und/oder gesundheitsbezogener Outcomes. Zwar konnten in der vorliegenden Studie keine statistisch signifikanten Verbesserungen in den Hauptzielkriterien wie Lebensqualität oder empfundene Behinderung nachgewiesen werden, die sich durch den Umzug in die Wohn- und Betreuungsform erklären lassen, aber insbesondere in den sekundären Zielkriterien zeigen sich doch z.T. deutliche Verbesserungen, wie bspw. die deutliche Zunahme der Alltagsaktivitäten in beiden WmI-Gruppen. Die systematische und unabhängige wissenschaftliche Evaluation des WmI zeigt damit für das evaluierte Modellprojekt eine Reihe von positiven Signalen ohne negative Begleiterscheinungen.