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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Über-, Unter- und Fehlversorgung – Beispiele aus der Versorgungsepidemiologie

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Wolfgang Hoffmann - Universitätsmedizin Greifswald KöR, Institut für Community Medicine, Versorgungsepidemiologie und Community Health, Greifswald, Deutschland

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocT1-13-413

doi: 10.3205/13dkvf003, urn:nbn:de:0183-13dkvf0036

Published: October 25, 2013

© 2013 Hoffmann.
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Versorgungsepidemiologie beschäftigt sich mit der Anwendung von medizinischen und pflegerischen Versorgungsleistungen sowie mit der Identifikation, Verteilung und Konsequenzen von Über- Unter- und Fehlversorgung in der Bevölkerung.

Dabei nimmt die Versorgungsepidemiologie verschiedene Blickwinkel ein, z.B. werden vulnerable Bevölkerungsgruppen betrachtet (z.B. Kinder oder multimorbide Patienten), raumbezogene Aspekte spielen eine wichtige Rolle (wo befinden sich Leistungserbringer, wie groß sind die Einzugsbereiche, sind sie auch erreichbar?) sowie auch Probleme an den Schnittstellen zwischen den Sektoren (z.B. die Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung).

Ein Beispiel für eine versorgungsepidemiologische Untersuchung im ambulanten Bereich war die Analyse der Medikamentensituation bei 779 älteren, immobilen multimorbiden Patienten in Zusammenarbeit mit Hausärzten und Apothekern. Es wurde die Anzahl der vorhandenen rezeptpflichtigen und frei-verkäuflichen Medikamente in der Häuslichkeit der Patienten dokumentiert, einschließlich Lagerung, Einnahmezeitpunkt und Dosierung des Medikaments. Zusätzlich wurden Daten zur Adhärenz und Nebenwirkungen erhoben. Die Patienten nahmen im Durchschnitt 6,8 unterschiedliche Wirkstoffe ein. 626 der 779 Patienten (80,4%) zeigten mindestens eine potentielle Wechselwirkung. Durchschnittlich wurden pro Patient 4,8 potentielle Wechselwirkungen gefunden. 454 Patienten (58,3%) hatten mindestens eine moderate oder ernste potentielle Wechselwirkung (Durchschnitt: 2,9) [1].

Ein wichtiges Thema in dünnbesiedelten Regionen ist die mittelfristige Sicherstellung der wohnortnahen Versorgung. Auf der Basis von Patientenzahlen, Daten zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und Bevölkerungsprognosen kann eine Prognose für die zukünftig notwendige Anzahl von niedergelassenen Ärzten verschiedener Fachrichtungen erstellt werden. Wo Lücken in der Versorgung entstehen, sollten innovative, regionale Versorgungskonzepte entwickelt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung eines Konzeptes für ein Gesundheitshaus im Grenzgebiet zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Für eine hausärztlich bereits unterversorgte Region mit etwa 9.000 Einwohnern (Bevölkerungsdichte 25 Einwohner/ km²) wurde in einer kleinräumigen Analyse der Bedarf an Leistungserbringern im ambulanten Bereich bestimmt, z.B. 5 Hausärzte, 0,26 Internisten, 0,33 Augenärzte und 0,29 Psychotherapeuten. Das Konzept sah u.a. vor, Praxen für eine gemeinsame Nutzung durch verschiedene Ärzte einzurichten. Parallel wurde ein Konzept für die Erreichbarkeit des Gesundheitshauses mit ÖPNV erarbeitet. Die Finanzierung wurde inzwischen gesichert und das Konzept soll in 2014 umgesetzt werden [2].

Das dritte Beispiel betrifft die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die stationäre und ambulante pädiatrische Versorgung in einer dünnbesiedelten Region in Mecklenburg-Vorpommern. Die aktuellen demografischen Entwicklungen führen nicht nur zu einer Zunahme der älteren Bevölkerung sondern auch zu einer starken Abnahme der Bevölkerung in den jüngeren Altersgruppen mit gravierenden Auswirkungen auf die Sicherstellung der pädiatrischen Versorgung in dünnbesiedelten Regionen. In einer detaillierten versorgungsepidemiologischen Analyse wurde untersucht, ob die avisierte Schließung einer pädiatrischen Abteilung im regionalen Krankenhaus gerechtfertigt wäre. Das erste Ergebnis der Analyse war, dass bei einer Schließung die nächstgelegenen Krankenhäuser mit öffentlichen Verkehrsmitteln nahezu unerreichbar für die lokale Bevölkerung werden würden. Das zweite Ergebnis war, dass die pädiatrische Abteilung des Krankenhauses bereits heute eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung der ambulanten kinder- und jugendmedizinischen Versorgung einnimmt, die im Versorgungssystem so nicht vorgesehen ist und derzeit nicht im KV-System abgerechnet werden kann. Eine mögliche Lösung wäre hier die Einrichtung einer Notfallpraxis am Krankenhaus, die durch Vertragsärzte und/oder Krankenhausärzte besetzt werden könnte [3].

Diese Untersuchungen zeigen einige ausgewählte Beispiele für versorgungsepidemiologische Analysen. Mit Hilfe der Versorgungsepidemiologie kann eine Evidenzbasis für Entscheidungen der Politik und der Selbstverwaltung zur zukünftigen Gestaltung des Versorgungssystems geschaffen werden.


Literatur

1.
Hoffmann W, et al. Pharmacoepidemiology and Drug Safety. 2011;20(12):1311-8.
2.
Hoffmann W, van den Berg N. In: Wiesmann U, et al, Hrsg. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann - Facetten der Medizinischen Psychologie in Greifswald. Lengerich: Pabst Science Publishers; 2012. p. 113-24.
3.
van den Berg N, et al. In: Dünkel F, Herbst M, Hrsg. Think rural! Wandel und Daseinsvorsorge in peripheren ländlichen Räumen. Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2013. (In Press)