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Klinische Profile des Leipziger Sprachinstrumentariums Jugend: Fallbeispiele der Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung im Jugendalter
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Published: | August 20, 2024 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Das Leipziger Sprach-Instrumentarium (LSI.J) ermöglicht die Tablet-basierte Überprüfung des Hör-/Sprachverstehens von Jugendlichen (Normen für den Altersbereich 14–22 Jahre, n=456) in den Bereichen frühe Lautverarbeitung, Lexikon, Syntax, pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten sowie visuelle und auditive Aufmerksamkeit. Im Projekt DINKO wird LSI.J mit verschiedenen klinischen Populationen erprobt, u.a. mit Kindern und Jugendlichen, die eine klinisch gesicherte Diagnose „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)“ haben.
Material und Methoden: Jugendliche mit einer fachärztlich gesicherten AVWS-Diagnose wurden in einer Leipziger Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören rekrutiert. Sie absolvierten neben den LSI.J-Tests auch die CELF-V-Sprachtests und eine IQ-Testung mit den IDS-2. In der Sektion Phoniatrie und Audiologie des Universitätsklinikums Leipzigs wurden Reinton- und Sprachaudiogramm, BERA, das Hören im Störgeräusch (OLKISA) und das dichotische Hören (Feldmann) überprüft.
Ergebnisse: Hier werden 3 Einzelprofile aus der Untersuchungsgruppe vorgestellt. Die 3 Jugendlichen (TP1–TP3) zeigten keine Einschränkungen des peripheren Hörens. TP1 erreichte einen IQ-Wert im durchschnittlichen Bereich, die Werte von TP2 und TP3 lagen 2–3 SD unterhalb des Mittelwertes. Alle 3 Jugendlichen waren im dichotischen Hören sowohl im LSI.J als auch im Feldmann auffällig und zeigten auffällige Leistungen im Nachsprechen und im lexikalischen Entscheiden. Einschränkungen beim Hören im Störgeräusch zeigte nur TP1. Bei TP2 und TP3 erwies sich hingegen bereits die Verarbeitung von Wortbedeutungen als auffällig.
Diskussion: In den Einzelprofilen zeigt sich die Vielfältigkeit sprachlicher und kognitiver Leistungsprofile bei AVWS. Die Tests liefern Hinweise auf sprachliche und kognitive Leistungsbereiche, die bei einer AVWS häufig gemeinsam betroffen sind.
Fazit: Mit der LSI.J liegt ein Verfahren vor, das aufgrund seiner Test-Zusammenstellung die Differenzial-Diagnostik bei entwicklungsbedingten Auffälligkeiten der Hör-/Sprachverarbeitung unterstützen kann. Darüber hinaus kann es helfen, therapeutische Ansätze zu identifizieren und zu prüfen, ob eine Hilfsmittel-Versorgung indiziert sein könnte.
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Hintergrund
Das Leipziger Sprach-Instrumentarium Jugend (LSI.J) [1] ermöglicht die Tablet-basierte Überprüfung des Hör-/Sprachverstehens von Jugendlichen. Überprüft werden die Bereiche der frühen Lautverarbeitung (Block Laute), Lexikon/Semantik (Block Wörter), Syntax (Block Sätze), die kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten (Block Botschaft) sowie die auditive und visuelle Aufmerksamkeit. Es liegen Normwerte aus einer deutschlandweit erhobenen Stichprobe (n=456) für den Altersbereich von 14–22 Jahren vor. Im Projekt DINKO wird unter anderem die Tauglichkeit des LSI.J bei verschiedenen klinischen Populationen erprobt. Im Folgenden sollen drei Einzelfälle aus der Gruppe der Proband*innen mit Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) dargestellt und deren Fähigkeitsprofil diskutiert werden.
Material und Methoden
Die Proband*innen wurden in einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören rekrutiert und wiesen alle eine fachärztlich gesicherte AVWS-Diagnose auf. Sie absolvierten vier Testzeitpunkte. Neben LSI.J wurden die sprachlichen Leistungen mittels der Clinical Evaluation of Language Fundamentals (CELF-V) [2] überprüft und außerdem eine IQ-Testung mit den Intelligence and Development Scales (IDS-2) [3] durchgeführt. Die vierte Testung fand in der Sektion Phoniatrie und Audiologie des Universitätsklinikums Leipzigs statt. Diese umfasste u.a. ein Reinton- und Sprachaudiogramm, eine BERA, die Überprüfung des Hörens im Störgeräusch (Oldenburger Kinder-Satztest, OLKISA) und des dichotischen Hörens (nach [4], [5]).
Ergebnisse
Es werden drei Einzelprofile aus der Untersuchungsgruppe vorgestellt. Die drei Testpersonen zeigten keine Einschränkungen des peripheren Hörens. Die Ergebnisse der weiteren Verfahren sind Tabelle 1 [Tab. 1] zu entnehmen.
Diskussion
Die dargestellten Einzelprofile verdeutlichen die Vielfältigkeit sprachlicher und kognitiver Leistungsprofile bei AVWS, liefern dabei aber auch Hinweise auf sprachliche und kognitive Leistungsbereiche, die bei einer AVWS häufig (gemeinsam) betroffen sind.
Betrachtet man die sprachlichen Leistungen der drei Testpersonen, wird deutlich, dass diese auf allen sprachlichen Ebenen Einschränkungen aufweisen. Diese beginnen im Bereich der Lautverarbeitung, betreffen die lexikalische und semantische Wortverarbeitung und ebenso auch die komplexeren Anforderungen im Bereich der Satzverarbeitung. Die reine Benennleistung erwies sich dabei häufig als relativ gut erhalten. Ebenso waren kommunikativ-pragmatische Defizite selten. Unter Berücksichtigung des Umfangs und der Vielfältigkeit der sprachlichen Beeinträchtigungen ist bei allen drei Testpersonen neben einer AVWS auch eine persistierende Sprachentwicklungsstörung zu diskutieren. Diese Komorbidität ist inzwischen gut belegt und verdeutlicht die Relevanz einer multidisziplinären Diagnostik bei AVWS [6].
Auf kognitiver Ebene variieren die Leistungen in den Teilleistungsbereichen der IDS-2 zwischen den Testpersonen. Die basierend auf der Literatur zu erwartenden Einschränkungen des auditiv-verbalen Kurzzeitgedächtnisses zeigten sich nur bei einer der Testpersonen (TP2) [7]. Diese Testperson war zudem die einzige, die in LSI.J Schwierigkeiten bei der Phonemdiskrimination zeigte, was eine der Fähigkeiten darstellt, die bereits im Grundschulalter zwischen Kindern mit und ohne AVWS divergiert [8], [9]. Auch das Verstehen im Störgeräusch, das eine hohe Trennschärfe zwischen Kindern mit und ohne AVWS ausweist, war nur bei einer der Testpersonen (TP3) eingeschränkt [8], [9]. Betrachtet man den Gesamt IQ-Wert weisen TP2 und 3 im Gegensatz zu TP1 einen Wert im unterdurchschnittlichen Bereich auf, was sich mit Ergebnissen aus der Literatur deckt, in denen Kinder mit einer AVWS auch in nonverbalen Verfahren eher am unteren Rand der Norm abschneiden [10]. Auch sinkt der IQ bei Kindern mit einer SES im Laufe der schulischen Laufbahn teilweise dramatisch ab [11], [12]. Wie oben beschrieben ist bei allen drei Testpersonen eine persistierende SES zu diskutieren. Grundsätzlich ist aber zu berücksichtigen, dass die Belastbarkeit der Testergebnisse von IQ-Testungen bei Kindern und Jugendlichen mit AVWS häufig limitiert ist [13], [14], [15].
Fazit
Besteht der Verdacht auf oder liegt bereits eine AVWS-Diagnose vor, gilt es auch im Jugendalter, neben Einschränkungen der Hörverarbeitung auch Auffälligkeiten im Bereich Sprache und Kommunikation und/oder der kognitiven Funktionen zu berücksichtigen. Eine umfassende und multidisziplinäre Diagnostik ist unerlässlich. Mit der LSI.J liegt ein Verfahren vor, das aufgrund seiner Test-Zusammenstellung die Differenzial-Diagnostik bei entwicklungsbedingten Auffälligkeiten der Hör-/Sprachverarbeitung unterstützen kann. Es kann helfen, therapeutische und pädagogische Ansätze zu identifizieren und zu prüfen, ob eine Hilfsmittel-Versorgung indiziert sein könnte.
Literatur
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