gms | German Medical Science

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Quantitative Sprachverständlichkeitsmodelle bei Menschen mit geistiger Behinderung

Poster

  • author presenting/speaker Lukas Prein - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • corresponding author Arne Knief - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Philipp Mathmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Werner Brannath - Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen, Universität Bremen, Deutschland
  • Karolin Schäfer - Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation lautsprachlich kommunizierender Menschen mit Hörschädigung (Audiopädagogik), Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Deutschland
  • Anja Neumann - Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
  • Awa Naghipour - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Susanna Zielonkowski - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Susanne Wasmuth - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Philip-Hendrik Höhne - AOK Rheinland/Hamburg, Stabsbereich Politik/Gesundheitsökonomie, Düsseldorf, Deutschland
  • Martin Scharpenberg - Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen, Universität Bremen, Deutschland
  • Sarah Schlierenkamp - Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement (EsFoMed) GmbH, Essen, Deutschland
  • Nicole Stuhrmann - Praxis für HNO-Heilkunde, Pädaudiologie und Phoniatrie, Düsseldorf-Meerbusch, Deutschland
  • Ruth Lang-Roth - Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Köln, Deutschland
  • Muhittin Demir - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Universitätsklinikum Essen, Deutschland
  • Nils Vogt - Kampmann Hörsysteme GmbH, Bochum, Deutschland
  • Sandra Diekmann - Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement (EsFoMed) GmbH, Essen, Deutschland
  • Katharina Schwarze - Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
  • Corinna Gietmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocP15

doi: 10.3205/24dgpp44, urn:nbn:de:0183-24dgpp440

Published: August 20, 2024

© 2024 Prein et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Prävalenz von Hörstörungen ist bei Menschen mit geistiger Behinderung (gB) verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung 5–10-mal höher. Zudem bleiben diese Hörstörungen meist unerkannt und werden nicht oder nicht ausreichend behandelt. Eine Therapie mit Hörgeräten (HG) kann auch bei Menschen mit gB erfolgreich sein. Der Benefit konnte mittels Freifeld-Tonaudiometrie und/oder Sprachaudiometrie nachgewiesen werden. Die realisierten Messungen sind Teil des G-BA-Projekts „HörGeist“. Dieser Beitrag überprüft die Anwendbarkeit des Speech Intelligibility Index (SII; ANSI S3.5 1997) bei Menschen mit gB. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie kann die SII-Bestimmung auf dem Tonaudiogramm basieren. Der SII gibt den hörbaren Sprach-Anteil an und wird bei Anwendung des Freiburger Einsilber-Test (FE) modifiziert.

Material und Methoden: Aus der HörGeist-Kohorte wurden 15 Normalhörende (NH) mit gB (PTA3 ≤ 20 dBHL) im Alter von 12–74 Jahren (Ø 33 Jahre, 8 w, 7 m) sowie 20 Personen mit gB und verordnetem HG im Alter von 26–74 Jahren zufällig ausgewählt (Ø 59 Jahre, 9 w, 11 m). Die HG-Anpassung erfolgte im Lebensumfeld der Menschen mit gB. Verglichen wurden SII-Werte und das gemessene Sprachverstehen (SV) im FE bei 65 dB und 80 dB. Grundlage für die SII-Berechnung ist die o.g. Richtlinie für Sprache bei 65 dB und Modifikation für den FE. Die Datenanalyse erfolgte mit dem Mann-Whitney-U-Test.

Ergebnisse: Der SII der NH mit gB betrug 98,9%, modifiziert für den FE folgt daraus ein SII von 99,6%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 94,1%, beide Werte waren signifikant unterschiedlich (p<0,001). Der SII der Menschen mit gB und HG entsprach 81,0%, modifiziert 95,1%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 46,4% mit signifikantem Unterschied (p<0,0001) und bei 80 dB 64,6%, Unterschied signifikant (p<0,0001).

Diskussion: Das SV der NH ist minimal geringer als das erwartete SV abgeschätzt mit dem modifizierten SII. Das erwartete SV mit HG entspricht nicht dem gemessenem SV, die Verstärkung der HG ist zu gering. Sie kann durch eine gleitende HG-Anpassung erklärt werden oder auch mit einer nicht effektiven Anpassformel. Die SII-Bestimmung gemäß o.g. Richtlinie basiert auf der HG-Anpassformel DSL v5.0. Die verwendete HG-Anpassformel konnte allerdings nicht bei allen Teilnehmenden ermittelt werden.

Fazit: Der modifizierte SII kann bei normalhörenden Menschen mit gB als grobes Maß für das erwartete SV angewendet werden. Die HG-Verstärkung der Menschen mit gB ist demnach tendenziell zu gering.

Förderung: Förderung durch G-BA-Innovationsfonds: Förderkennzeichen 01NVF18038


Text

Hintergrund

Die Prävalenz von Hörstörungen ist bei Menschen mit geistiger Behinderung (gB) etwa 5–10-mal höher verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung [1], [2]. Zudem bleiben diese Hörstörungen meist unerkannt und werden nicht oder nicht ausreichend behandelt [1]. Dennoch kann eine Therapie mit Hörgeräten auch bei Menschen mit gB erfolgreich sein [2]. Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse aus dem vom G-BA-Innovationsfonds geförderten Projekt „HörGeist“ (Förderkennzeichen 01NVF18038) vorgestellt. In diesem Projekt erhielten mehr als 1.050 Menschen mit gB zwei Hörscreenings in einem jährlichen Abstand, wenn nötig Folgediagnostiken und Versorgungen von Hörstörungen in ihrem Lebensumfeld [3]. Ein Nutzen von Hörgeräten konnte mittels Freifeld(FF)-Tonaudiometrie und/oder FF-Sprachaudiometrie nachgewiesen werden [4]. Der vorliegende Beitrag überprüft die Anwendbarkeit des quantitativen Sprachverständlichkeitsmodells Speech Intelligibility Index (SII; ANSI S3.5 1997) bei Menschen mit gB. Gemäß des University of Western Ontario Pediatric Audiological Monitoring Protocol (UWO-PedAMP-Richtlinie) kann die SII-Bestimmung auf dem Tonaudiogramm basieren [5]. Der SII bildet die verfügbaren Sprachinformationen des Eingangssignals ab, die für das Verstehen von Sprache zur Verfügung stehen. Für die Anwendung des Freiburger Sprachverständlichkeitstests mit einsilbigen Wörtern (FE) wird der SII durch eine Transferfunktion modifiziert, um die Eigenschaften des FE zu berücksichtigen und das erwartbare Sprachverstehen zu bestimmen [6].

Material und Methoden

Um die Anwendbarkeit des SII zur Vorhersage des Verstehens von Sprache aus dem Tonaudiogramm bei Menschen mit gB zu untersuchen, wurden aus dem HörGeist-Kollektiv 15 Normalhörende (NH) (PTA3 ≤ 20 dBHL) im Alter von 12–74 Jahren (Ø 33 Jahre, 8 weiblich, 7 männlich) sowie 20 Personen mit verordnetem Hörgerät im Alter von 26 bis 74 Jahren zufällig ausgewählt (Ø 59 Jahre, 9 weiblich, 11 männlich). Bei Letzteren war zuvor die Hörgeräteanpassung im individuellen Lebensumfeld der Teilnehmer*innen durch Hörakustiker des Projektteams oder durch „externe“ Hörakustiker erfolgt. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie für Sprache bei 65 dB und der Modifikation mittels Transferfunktion für den FE erfolgte die seitengetrennte Berechnung der SII-Werte und der anschließende Vergleich mit dem seitengetrennt ermittelten Sprachverstehen (SV) des FE im FF bei 65 dB und 80 dB. Der inferenzstatistische Vergleich wurde mit dem Mann-Whitney-U-Test mit RStudio 2023.09.1 durchgeführt.

Ergebnisse

Abbildung 1 [Abb. 1] stellt den Vergleich des FE-SV der Teilnehmer*innen ohne und mit Hörgerät und dem berechnetem SII inkl. Transferfunktion dar. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie betrug der berechnete SII der Normalhörenden 98,9%, mithilfe der Transferfunktion folgt für den FE daraus ein berechnetes, erwartbares SV von 99,6%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 94,1%; beide Werte waren signifikant unterschiedlich (p<0,001). Der SII der hörgeräteversorgten Teilnehmer*innen mit gB betrug 81,0%, das berechnete erwartbare SV war 95,1%, verglichen damit lag das gemessene SV bei jeweils 65 dB mit 46,4% bzw. 80 dB mit 64,6% signifikant niedriger (p<0,0001).

Diskussion

Das gemessene SV der NH ist minimal geringer als das erwartete SV, abgeschätzt mit dem modifizierten SII. Das erwartete SV mit Hörgerät entspricht nicht dem gemessenen SV, die Verstärkung der Hörgeräte ist im Mittel zu gering. Dies kann einerseits durch eine gleitende Hörgeräteanpassung erklärt werden. Andererseits konnte die verwendete Hörgeräteanpassformel nicht bei allen Teilnehmenden ermittelt werden. Die SII-Bestimmung gemäß o.g. Richtlinie basiert auf der Anpassformel DSL v5.0. Die signifikanten Unterschiede könnten somit durch eine Anpassformel mit weniger Verstärkung wie z.B. NAL-NL2 erklärt werden.

Schlussfolgerung

Der modifizierte SII kann bei normalhörenden Menschen mit gB als grobes Maß für das erwartete SV angewendet werden. Als Kontrollwert bei hörgeräteversorgten Menschen mit gB zeigt er hier, dass die HG-Verstärkung der Teilnehmer*innen zu gering war, da selbst bei 80 dB der berechnete Wert nicht erreicht wurde.


Literatur

1.
Hild U, Hey C, Baumann U, Montgomery J, Euler HA, Neumann K. High prevalence of hearing disorders at the Special Olympics indicate need to screen persons with intellectual disability. J Intellect Disabil Res. 2008 Jun;52(Pt 6):520-8. DOI: 10.1111/j.1365-2788.2008.01059.x External link
2.
Neumann K, Dettmer G, Euler HA, Giebel A, Gross M, Herer G, Hoth S, Lattermann C, Montgomery J. Auditory status of persons with intellectual disability at the German Special Olympic Games. Int J Audiol. 2006 Feb;45(2):83-90. DOI: 10.1080/14992020500376891 External link
3.
Schwarze K, Mathmann P, Schäfer K, Brannath W, Höhne PH, Altin S, Prein L, Naghipour A, Zielonkowski SM, Wasmuth S, Kanaan O, Am Zehnhoff-Dinnesen A, Schwalen AS, Schotenröhr A, Scharpenberg M, Schlierenkamp S, Stuhrmann N, Lang-Roth R, Demir M, Diekmann S, Neumann A, Gietmann C, Neumann K. Effectiveness and costs of a low-threshold hearing screening programme (HörGeist) for individuals with intellectual disabilities: protocol for a screening study. BMJ Open. 2023 May 18;13(5):e070259. DOI: 10.1136/bmjopen-2022-070259 External link
4.
Prein L, Mathmann P, Brannath W, Schäfer K, Neumann A, Naghipour A, Zielonkowski S, Wasmuth S, Höhne P-H, Knief A, Kanaan O, Scharpenberg M, Schlierenkamp S, Stuhrmann N, Lang-Roth R, Demir M, Diekmann S, Schwarze K, Gietmann C, Neumann K. Hörgeräteversorgung von Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Lebensumfeld. In: Deutsche Gesellschaft für Audiologie e.V. (DGA), editor. 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie. Aalen, 06.-08.03.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. Doc113. DOI: 10.3205/24dga113 External link
5.
Bagatto MP, Moodie ST, Malandrino AC, Richert FM, Clench DA, Scollie SD. The University of Western Ontario Pediatric Audiological Monitoring Protocol (UWO PedAMP). Trends Amplif. 2011 Mar-Jun;15(1):57-76. DOI: 10.1177/1084713811420304 External link
6.
Winkler A, Carroll R, Holube I. Impact of Lexical Parameters and Audibility on the Recognition of the Freiburg Monosyllabic Speech Test. Ear Hear. 2020 Jan/Feb;41(1):136-42. DOI: 10.1097/AUD.0000000000000737 External link