Article
Quantitative Sprachverständlichkeitsmodelle bei Menschen mit geistiger Behinderung
Search Medline for
Authors
Published: | August 20, 2024 |
---|
Outline
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Prävalenz von Hörstörungen ist bei Menschen mit geistiger Behinderung (gB) verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung 5–10-mal höher. Zudem bleiben diese Hörstörungen meist unerkannt und werden nicht oder nicht ausreichend behandelt. Eine Therapie mit Hörgeräten (HG) kann auch bei Menschen mit gB erfolgreich sein. Der Benefit konnte mittels Freifeld-Tonaudiometrie und/oder Sprachaudiometrie nachgewiesen werden. Die realisierten Messungen sind Teil des G-BA-Projekts „HörGeist“. Dieser Beitrag überprüft die Anwendbarkeit des Speech Intelligibility Index (SII; ANSI S3.5 1997) bei Menschen mit gB. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie kann die SII-Bestimmung auf dem Tonaudiogramm basieren. Der SII gibt den hörbaren Sprach-Anteil an und wird bei Anwendung des Freiburger Einsilber-Test (FE) modifiziert.
Material und Methoden: Aus der HörGeist-Kohorte wurden 15 Normalhörende (NH) mit gB (PTA3 ≤ 20 dBHL) im Alter von 12–74 Jahren (Ø 33 Jahre, 8 w, 7 m) sowie 20 Personen mit gB und verordnetem HG im Alter von 26–74 Jahren zufällig ausgewählt (Ø 59 Jahre, 9 w, 11 m). Die HG-Anpassung erfolgte im Lebensumfeld der Menschen mit gB. Verglichen wurden SII-Werte und das gemessene Sprachverstehen (SV) im FE bei 65 dB und 80 dB. Grundlage für die SII-Berechnung ist die o.g. Richtlinie für Sprache bei 65 dB und Modifikation für den FE. Die Datenanalyse erfolgte mit dem Mann-Whitney-U-Test.
Ergebnisse: Der SII der NH mit gB betrug 98,9%, modifiziert für den FE folgt daraus ein SII von 99,6%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 94,1%, beide Werte waren signifikant unterschiedlich (p<0,001). Der SII der Menschen mit gB und HG entsprach 81,0%, modifiziert 95,1%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 46,4% mit signifikantem Unterschied (p<0,0001) und bei 80 dB 64,6%, Unterschied signifikant (p<0,0001).
Diskussion: Das SV der NH ist minimal geringer als das erwartete SV abgeschätzt mit dem modifizierten SII. Das erwartete SV mit HG entspricht nicht dem gemessenem SV, die Verstärkung der HG ist zu gering. Sie kann durch eine gleitende HG-Anpassung erklärt werden oder auch mit einer nicht effektiven Anpassformel. Die SII-Bestimmung gemäß o.g. Richtlinie basiert auf der HG-Anpassformel DSL v5.0. Die verwendete HG-Anpassformel konnte allerdings nicht bei allen Teilnehmenden ermittelt werden.
Fazit: Der modifizierte SII kann bei normalhörenden Menschen mit gB als grobes Maß für das erwartete SV angewendet werden. Die HG-Verstärkung der Menschen mit gB ist demnach tendenziell zu gering.
Förderung: Förderung durch G-BA-Innovationsfonds: Förderkennzeichen 01NVF18038
Text
Hintergrund
Die Prävalenz von Hörstörungen ist bei Menschen mit geistiger Behinderung (gB) etwa 5–10-mal höher verglichen mit der Durchschnittsbevölkerung [1], [2]. Zudem bleiben diese Hörstörungen meist unerkannt und werden nicht oder nicht ausreichend behandelt [1]. Dennoch kann eine Therapie mit Hörgeräten auch bei Menschen mit gB erfolgreich sein [2]. Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse aus dem vom G-BA-Innovationsfonds geförderten Projekt „HörGeist“ (Förderkennzeichen 01NVF18038) vorgestellt. In diesem Projekt erhielten mehr als 1.050 Menschen mit gB zwei Hörscreenings in einem jährlichen Abstand, wenn nötig Folgediagnostiken und Versorgungen von Hörstörungen in ihrem Lebensumfeld [3]. Ein Nutzen von Hörgeräten konnte mittels Freifeld(FF)-Tonaudiometrie und/oder FF-Sprachaudiometrie nachgewiesen werden [4]. Der vorliegende Beitrag überprüft die Anwendbarkeit des quantitativen Sprachverständlichkeitsmodells Speech Intelligibility Index (SII; ANSI S3.5 1997) bei Menschen mit gB. Gemäß des University of Western Ontario Pediatric Audiological Monitoring Protocol (UWO-PedAMP-Richtlinie) kann die SII-Bestimmung auf dem Tonaudiogramm basieren [5]. Der SII bildet die verfügbaren Sprachinformationen des Eingangssignals ab, die für das Verstehen von Sprache zur Verfügung stehen. Für die Anwendung des Freiburger Sprachverständlichkeitstests mit einsilbigen Wörtern (FE) wird der SII durch eine Transferfunktion modifiziert, um die Eigenschaften des FE zu berücksichtigen und das erwartbare Sprachverstehen zu bestimmen [6].
Material und Methoden
Um die Anwendbarkeit des SII zur Vorhersage des Verstehens von Sprache aus dem Tonaudiogramm bei Menschen mit gB zu untersuchen, wurden aus dem HörGeist-Kollektiv 15 Normalhörende (NH) (PTA3 ≤ 20 dBHL) im Alter von 12–74 Jahren (Ø 33 Jahre, 8 weiblich, 7 männlich) sowie 20 Personen mit verordnetem Hörgerät im Alter von 26 bis 74 Jahren zufällig ausgewählt (Ø 59 Jahre, 9 weiblich, 11 männlich). Bei Letzteren war zuvor die Hörgeräteanpassung im individuellen Lebensumfeld der Teilnehmer*innen durch Hörakustiker des Projektteams oder durch „externe“ Hörakustiker erfolgt. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie für Sprache bei 65 dB und der Modifikation mittels Transferfunktion für den FE erfolgte die seitengetrennte Berechnung der SII-Werte und der anschließende Vergleich mit dem seitengetrennt ermittelten Sprachverstehen (SV) des FE im FF bei 65 dB und 80 dB. Der inferenzstatistische Vergleich wurde mit dem Mann-Whitney-U-Test mit RStudio 2023.09.1 durchgeführt.
Ergebnisse
Abbildung 1 [Abb. 1] stellt den Vergleich des FE-SV der Teilnehmer*innen ohne und mit Hörgerät und dem berechnetem SII inkl. Transferfunktion dar. Gemäß UWO-PedAMP-Richtlinie betrug der berechnete SII der Normalhörenden 98,9%, mithilfe der Transferfunktion folgt für den FE daraus ein berechnetes, erwartbares SV von 99,6%, das gemessene SV betrug bei 65 dB 94,1%; beide Werte waren signifikant unterschiedlich (p<0,001). Der SII der hörgeräteversorgten Teilnehmer*innen mit gB betrug 81,0%, das berechnete erwartbare SV war 95,1%, verglichen damit lag das gemessene SV bei jeweils 65 dB mit 46,4% bzw. 80 dB mit 64,6% signifikant niedriger (p<0,0001).
Diskussion
Das gemessene SV der NH ist minimal geringer als das erwartete SV, abgeschätzt mit dem modifizierten SII. Das erwartete SV mit Hörgerät entspricht nicht dem gemessenen SV, die Verstärkung der Hörgeräte ist im Mittel zu gering. Dies kann einerseits durch eine gleitende Hörgeräteanpassung erklärt werden. Andererseits konnte die verwendete Hörgeräteanpassformel nicht bei allen Teilnehmenden ermittelt werden. Die SII-Bestimmung gemäß o.g. Richtlinie basiert auf der Anpassformel DSL v5.0. Die signifikanten Unterschiede könnten somit durch eine Anpassformel mit weniger Verstärkung wie z.B. NAL-NL2 erklärt werden.
Schlussfolgerung
Der modifizierte SII kann bei normalhörenden Menschen mit gB als grobes Maß für das erwartete SV angewendet werden. Als Kontrollwert bei hörgeräteversorgten Menschen mit gB zeigt er hier, dass die HG-Verstärkung der Teilnehmer*innen zu gering war, da selbst bei 80 dB der berechnete Wert nicht erreicht wurde.
Literatur
- 1.
- Hild U, Hey C, Baumann U, Montgomery J, Euler HA, Neumann K. High prevalence of hearing disorders at the Special Olympics indicate need to screen persons with intellectual disability. J Intellect Disabil Res. 2008 Jun;52(Pt 6):520-8. DOI: 10.1111/j.1365-2788.2008.01059.x
- 2.
- Neumann K, Dettmer G, Euler HA, Giebel A, Gross M, Herer G, Hoth S, Lattermann C, Montgomery J. Auditory status of persons with intellectual disability at the German Special Olympic Games. Int J Audiol. 2006 Feb;45(2):83-90. DOI: 10.1080/14992020500376891
- 3.
- Schwarze K, Mathmann P, Schäfer K, Brannath W, Höhne PH, Altin S, Prein L, Naghipour A, Zielonkowski SM, Wasmuth S, Kanaan O, Am Zehnhoff-Dinnesen A, Schwalen AS, Schotenröhr A, Scharpenberg M, Schlierenkamp S, Stuhrmann N, Lang-Roth R, Demir M, Diekmann S, Neumann A, Gietmann C, Neumann K. Effectiveness and costs of a low-threshold hearing screening programme (HörGeist) for individuals with intellectual disabilities: protocol for a screening study. BMJ Open. 2023 May 18;13(5):e070259. DOI: 10.1136/bmjopen-2022-070259
- 4.
- Prein L, Mathmann P, Brannath W, Schäfer K, Neumann A, Naghipour A, Zielonkowski S, Wasmuth S, Höhne P-H, Knief A, Kanaan O, Scharpenberg M, Schlierenkamp S, Stuhrmann N, Lang-Roth R, Demir M, Diekmann S, Schwarze K, Gietmann C, Neumann K. Hörgeräteversorgung von Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Lebensumfeld. In: Deutsche Gesellschaft für Audiologie e.V. (DGA), editor. 26. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Audiologie. Aalen, 06.-08.03.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. Doc113. DOI: 10.3205/24dga113
- 5.
- Bagatto MP, Moodie ST, Malandrino AC, Richert FM, Clench DA, Scollie SD. The University of Western Ontario Pediatric Audiological Monitoring Protocol (UWO PedAMP). Trends Amplif. 2011 Mar-Jun;15(1):57-76. DOI: 10.1177/1084713811420304
- 6.
- Winkler A, Carroll R, Holube I. Impact of Lexical Parameters and Audibility on the Recognition of the Freiburg Monosyllabic Speech Test. Ear Hear. 2020 Jan/Feb;41(1):136-42. DOI: 10.1097/AUD.0000000000000737