Article
Wo sollte die Phoniatrie bei der Etablierung neuer Therapieoptionen in der onkologischen Kopf-Hals-Chirurgie stehen? Erstbeschreibung einer Defektdeckung nach Hemiglossektomie mit polymerem Implantatmaterialien
Search Medline for
Authors
Published: | August 20, 2024 |
---|
Outline
Zusammenfassung
Hintergrund: Rekonstruktionen von tumorchirurgischen Defekten im oberen Aerodigestivtrakt mit Hautmuskellappen erfordern in der Regel eine Tracheotomie zur Sicherstellung der Atemwege und eine PEG-Anlage zur Ernährung, die mit einer reduzierten Lebensqualität assoziiert sind. Zungenteilresektionen stellen eine besondere Herausforderung dar, da die Zunge neben den sensorischen Funktionen durch die komplexe intrinsische und extrinsische Muskulatur eine wesentliche Funktion beim Schlucken und Sprechen hat. Polymere Implantatmaterialien zur Defektdeckung zum Beispiel nach tumorchirurgischen Zungenteilresektionen stehen bisher nicht routinemäßig zur Verfügung.
Material und Methoden: Bei einem 61-jährigen Patienten mit einem cT2 pN3b cM0 p16 negativen Zungenrandkarzinom rechts erfolgte eine Hemiglossektomie und Abdeckung des ausgedehnten Tumordefektes mit SUPRATHEL® 250 als Off-Label-Use. SUPRATHEL® wie auch das SUPRATHEL® 250 sind innovative biologisch abbaubare mikroporöse Membranen, die für den alloplastischen Epithelersatz zur Behandlung von epidermalen und dermalen Wunden zugelassen sind. SUPRATHEL® sowie das SUPRATHEL® 250 haben vergleichbare Eigenschaften bezüglich Elastizität, Wasserdampfdurchlässigkeit und Bakterienundurchlässigkeit.
Ergebnisse: SUPRATHEL® 250 zeigt im enoralen Milieu eine ausreichende chemische, enzymatische und bakterielle Stabilität. Es traten keine Blutungskomplikationen auf. Der Patient benötigte keine Tracheotomie, war postoperativ mit weichen Konsistenzen voll oralisiert und zeigte eine ausreichend verständliche Artikulation. Die hydrolytische Degradation des Materials zu Laktat scheint, wie auch bei der Anwendung von SUPRATHEL® in der Verbrennungschirurgie, über die pH-Wert-Verschiebung das zelluläre Wundheilungsmilieu zu fördern und den Gewebeaufbau zu stimulieren.
Diskussion: Die Anwendung von SUPRATHEL® 250 nach tumorchirurgischer Resektion im oberen Aerodigestivtrakt anstelle von Hautmuskellappen stellt eine neuartige therapeutische Option in der onkologischen Kopf-Halschirurgie dar. In Zeiten der Ressourcenknappheit in der stationären Patientenversorgung sind die reduzierten OP-Zeiten und die Senkung der operativen Morbidität mit deutlich verkürzten Liegezeiten wesentliche Parameter. Die Etablierung solcher neuen Therapieoptionen setzt eine hohe Interdisziplinarität verschiedener Fachgebiete voraus.
Fazit: Die Phoniatrie sollte aufgrund ihrer hohen Fachkompetenz in den funktionellen Aspekten der onkologischen Therapie im Kopf-Halsbereich in diesen Prozess von Beginn an eingebunden sein.
Text
Einleitung und Hintergrund
Die Regenerative Medizin wird als vielversprechender Bereich der modernen Biomedizin für die Etablierung neuer therapeutischer Optionen angesehen. Die Anwendung von polymeren, abbaubaren Implantatmaterialien steht in der onkologischen Kopf-Hals-Chirurgie noch ganz am Anfang. Da insbesondere in der Phoniatrie die immense Bedeutung der funktionellen Ergebnisse der onkologischen Therapie für die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten bekannt ist, können von phoniatrischer Seite wesentliche Impulse für die Etablierung neuer Therapieoptionen in der onkologischen Kopf-Halschirurgie ausgehen.
Rekonstruktionen von tumorchirurgischen Defekten im oberen Aerodigestivtrakt mit Hautmuskellappen erfordern in der Regel eine Tracheotomie zur Sicherstellung der Atemwege und eine PEG-Anlage zur Ernährung. Die damit verbundene reduzierte Lebensqualität wird insbesondere im Rahmen der postoperativen phoniatrischen Mitbetreuung deutlich. Insbesondere jüngere Patienten erwarten höhere Anforderungen an die funktionellen Ergebnisse der onkologischen Therapie.
Zungenteilresektionen stellen eine besondere Herausforderung dar, da die Zunge neben den sensorischen Funktionen durch die komplexe intrinsische und extrinsische Muskulatur eine wesentliche Funktion beim Schlucken und Sprechen hat.
Von phoniatrischer Seite wäre eine verbesserte Schluck- und Sprechfunktion im Vergleich zu den bisherigen funktionellen Ergebnissen bei Anwendung von Hautmuskellappen ein wesentliches Ziel. In Zeiten der Ressourcenknappheit in der stationären Patientenversorgung sind bei einer erfolgreichen Defektdeckung mit polymeren Implantatmaterialien die reduzierten OP-Zeiten und die Senkung der operativen Morbidität mit kürzeren Liegezeiten wesentliche Parameter.
Polymere Implantatmaterialien zur Defektdeckung zum Beispiel nach tumorchirurgischen Zungenteilresektionen stehen bisher nicht routinemäßig zur Verfügung. In vorangegangenen Untersuchungen konnte bei 15 tumorchirurgischen Resektionen von T1- und T2-Zungenrandkarzinomen eine problemlose Wundheilung und sehr gute funktionelle Ergebnisse nach Defektdeckung mit SUPRATHEL® 250, einer innovativen biologisch abbaubaren mikroporösen Membran als Off-Label-Use gezeigt werden.
Material und Methoden
Bei Suprathel® handelt es sich um eine biologisch abbaubare Membran, die für den alloplastischen Hautersatz zur Behandlung von dermalen Wunden in der EU seit 2004 zugelassen ist. Das Suprathel® 250 ist im chemischen Aufbau und Struktur analog dem Suprathel®. Auch das klinische Einsatzgebiet ist analog dem Suprathel®. Der einzige Unterschied ist die Querschnittsdicke der Membran. Das Suprathel® hat eine Dicke von 80–120 µm versus einer Querschnittsdicke von 170–230 µm beim Suprathel® 250.
Bei Suprathel® handelt es sich um eine interkonnektierende Membranstruktur nach dem Strukturvorbild der menschlichen Haut auf der Basis von Polymilchsäure mit hoher Elastizität und Flexibilität. Das Material wird vollständig hydrolytisch zu Laktat bzw. Milchsäure und inert im Rahmen des Zitronensäurezyklus metabolisch abgebaut.
Bei einem 61-jährigen Patienten mit einem cT2-3 pN3b cM0 p16 negativen Zungenrandkarzinom rechts erfolgte eine Hemiglossektomie und Abdeckung des ausgedehnten Tumordefektes mit SUPRATHEL® 250 als Off-Label-Use. SUPRATHEL® sowie das SUPRATHEL® 250 haben vergleichbare Eigenschaften bezüglich Elastizität, Wasserdampfdurchlässigkeit und Bakterienundurchlässigkeit.
Das Material wurde mit Vicryl 3.0 im Bereich der Resektionsränder fixiert. Postoperativ erfolgte die stationäre Überwachung mit täglicher Wundkontrolle und -dokumentation. Der Patient war mit weichen Konsistenzen oralisiert. Die Schmerzmedikation erfolgte oral mit Ibuprofen 600 mg bis maximal 4x/24 h und Metamizol-Tropfen (bis maximal 4x 30 Tropfen) bei Bedarf.
Ergebnisse und Diskussion
SUPRATHEL® 250 zeigte im enoralen Milieu eine ausreichende chemische, enzymatische und bakterielle Stabilität. Es traten keine Blutungskomplikationen und keine Wundinfektionen auf. Der Patient benötigte keine Tracheotomie, war postoperativ mit weichen Konsistenzen voll oralisiert und zeigte eine gut verständliche Artikulation. Der Analgesiebedarf war mit Ibuprofen und Metamizol relativ gering.
Suprathel® 250 besitzt nach den bisherigen klinischen Erfahrungen eine ausreichende enzymatische Aktivität im Kontakt mit Speichel sowie eine ausreichend chemische Stabilität im oralen Milieu. Die mechanische Stabilität im Zungenrandbereich war ausreichend. Ebenso zeigte sich bei den bisherigen Ergebnissen eine ausreichende bakteriologische Stabilität im Mundhöhlenbereich.
Die hydrolytische Degradation des Materials zu Laktat scheint, wie auch bei der Anwendung von SUPRATHEL® in der Verbrennungschirurgie, über die pH-Wert-Verschiebung das zelluläre Wundheilungsmilieu zu fördern und den Gewebeaufbau zu stimulieren. Der bei Anwendung von Suprathel® bei dermalen Wunden beschriebene Barriereeffekt sowie der systemische und Wundheilungsdefekt scheint auch im Schleimhautniveau eine Relevanz zu haben.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Anwendung von SUPRATHEL® 250 nach tumorchirurgischer Resektion im oberen Aerodigestivtrakt anstelle von Hautmuskellappen stellt eine neuartige therapeutische Option in der onkologischen Kopf-Halschirurgie dar, die bisher in der Literatur noch nicht beschrieben wurde und deutlich bessere funktionelle Ergebnisse zeigt. In Zeiten der Ressourcenknappheit in der stationären Patientenversorgung sind die reduzierten OP-Zeiten und die Senkung der operativen Morbidität mit deutlich verkürzten Liegezeiten wesentliche Parameter. Die Etablierung solcher neuen Therapieoptionen setzt eine hohe Interdisziplinarität verschiedener Fachgebiete und Technologiefelder voraus. Die Phoniatrie sollte aufgrund ihrer hohen Fachkompetenz in den funktionellen Aspekten der onkologischen Therapie im Kopf-Halsbereich in diesen Prozess von Beginn an eingebunden sein. Da SUPRATHEL® (einem CE/FDA zugelassenen Medizinprodukt) bisher nur die Hautzulassung hat, ist eine aktuelle Studie für die Schleimhautzulassung von SUPRATHEL® 250 geplant.