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40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Funktionelle Neurologische Störung im Bereich der Phoniatrie – ein wenig beachtetes Krankheitsbild mit der Notwendigkeit neuer Versorgungsmodelle

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  • corresponding author presenting/speaker Peggy Herrmann - Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Bonn, Deutschland
  • author Antonia Nolte - Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Bonn, Deutschland
  • Maria Dietrich - Psychiatrie und Psychotherapie, Spezialambulanz für funktionelle Stimm- und Schluckstörungen, Bonn, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocP11

doi: 10.3205/24dgpp34, urn:nbn:de:0183-24dgpp342

Published: August 20, 2024

© 2024 Herrmann et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Bei Funktionellen Neurologischen Störungen (FNS) sind aktuell keine spezifischen strukturellen Läsionen des Nervensystems bekannt. Fehlanpassungen und Fehlsteuerungen, sie sich in veränderten neuronalen Aktivierungsmustern zeigen können führen zu sehr unterschiedlichen Symptomenkomplexen. Auch phoniatrische Krankheitsbilder können so auftreten. Stimmstörungen und Schluckstörungen sind auf diesen Hintergrund zu überprüfen.

Material und Methoden: Fallbeispiel: Eine 27-jährige Patientin wurde bei uns zur Schluckdiagnostik vorstellig. Seit 4 Jahren war eine funktionelle neurologische Störung mit dissoziativen Anfällen bekannt. Die Symptomatik umfasste bislang Lähmungserscheinungen der unteren Extremität und Krampfanfälle. Seit einigen Monaten klagte sie zusätzlich über häufiges Verschlucken und Unvermögen abzuschlucken. Seitdem hatte die Patientin circa 10 kg Gewicht verloren.

Ergebnisse: Wir führten eine FEES bei der Patientin durch. Hierbei zeigte sich eine kompensierte Penetration und Aspiration für Flüssigkeiten im Sinne eines Eindringens bis auf Glottisebene. Durch Husten und Räuspern wurde der Luftweg bereinigt. Breiige und feste Kost verblieb oberhalb der Stimmlippen und wurde im weiteren Verlauf ebenfalls aus den Luftwegen entfernt.

Fazit: Die Behandlung funktioneller neurologischer Störungsbilder erfordert eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation auf unterschiedlichen Ebenen. Auch die Phoniatrie ist in diesem Bereich gefragt. Neue innovative Versorgungsmodelle mit enger fachübergreifender Kooperation sind zur Diagnostik und Therapie dieses komplexen und noch wenig erforschten Krankheitsbildes notwendig.


Text

Hintergrund

Bei Funktionellen Neurologischen Störungen (FNS) sind aktuell keine spezifischen strukturellen Läsionen des Nervensystems bekannt. Fehlanpassungen und Fehlsteuerungen, die sich in veränderten neuronalen Aktivierungsmustern zeigen können, führen zu sehr unterschiedlichen chronischen neurologischen Symptomenkomplexen [1]. Auch phoniatrische Krankheitsbilder können auftreten. Stimmstörungen und Schluckstörungen sind auf diesen Hintergrund zu überprüfen.

Material und Methoden

Eine 27-jährige Patientin wurde bei uns zur Schluckdiagnostik vorstellig. Seit 4 Jahren war eine funktionelle neurologische Störung mit dissoziativen Anfällen bekannt. Die Symptomatik umfasste bislang Lähmungserscheinungen der unteren Extremität und Krampfanfälle. Seit einigen Monaten klagte sie zusätzlich über häufiges Verschlucken und Unvermögen abzuschlucken. Seitdem hatte die Patientin circa 10 kg Gewicht verloren.

Ergebnisse

Wir führten eine FEES bei der Patientin durch. Hierbei zeigte sich eine kompensierte Penetration und Aspiration für Flüssigkeiten im Sinne eines Eindringens bis auf Glottisebene (Abbildung 1 [Abb. 1]). Durch Husten und Räuspern wurde der Luftweg bereinigt. Breiige und feste Kost verblieb oberhalb der Stimmlippen und wurde im weiteren Verlauf ebenfalls aus den Luftwegen entfernt.

Bei rasch progredienter Verschlechterung bestand die Notwendigkeit einer Versorgung über eine PEG-Anlage und orale Nahrungskarenz bei Aspiration. Über eine spezialisierte logopädische Schlucktherapie und begleitende Psychotherapie konnte eine orale Nahrungsaufnahme wieder ermöglicht werden.

Diskussion

Funktionelle neurologische Störungen sind ein häufiger Grund für Konsultationen in neurologischen Kliniken mit bis zu 16% der Patienten [1], [2]. Die Symptome variieren stark und können sehr heterogen erscheinen. Epileptische Anfälle, sensorische Ausfälle, motorische und kognitive Einschränkungen, Stimm- und Schluckprobleme können auftreten [3]. Insbesondere Funktionelle Schluckstörungen sind weiterhin oft unterschätzt [4]. Der Ausschluss organischer Ursachen muss im Rahmen einer sorgfältigen Umfelddiagnostik erfolgen, idealerweise an einer Klinik mit Spezialambulanz für funktionelle neurologische Störungen. In der Literatur werden traumatische Erlebnisse als mögliche Assoziation angeben, die Anzahl der Patienten, auf die dies zutrifft, variiert allerdings stark [5]. Therapeutisch ist ein differenziertes Krankheitsverständnis eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Auf dem Gebiet der funktionellen Störungen spezialisierte Logopäd*innen spielen eine essentielle Rolle in der Schlucktherapie [6]. Begleitende Psychotherapie erfordert zudem einen interdisziplinären Ansatz.

Fazit

Die Behandlung funktioneller neurologischer Störungsbilder erfordert eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation auf unterschiedlichen Ebenen. Auch die Phoniatrie ist in diesem Bereich gefragt. Neue innovative Versorgungsmodelle mit enger fachübergreifender Kooperation sind zur Diagnostik und Therapie dieses komplexen und noch wenig erforschten Krankheitsbildes notwendig.


Literatur

1.
Edwards MJ, Bhatia KP. Functional (psychogenic) movement disorders: merging mind and brain. Lancet Neurol. 2012 Mar;11(3):250-60. DOI: 10.1016/S1474-4422(11)70310-6 External link
2.
Stone J, Carson A, Duncan R, Roberts R, Warlow C, Hibberd C, Coleman R, Cull R, Murray G, Pelosi A, Cavanagh J, Matthews K, Goldbeck R, Smyth R, Walker J, Sharpe M. Who is referred to neurology clinics? – the diagnoses made in 3781 new patients. Clin Neurol Neurosurg. 2010 Nov;112(9):747-51. DOI: 10.1016/j.clineuro.2010.05.011 External link
3.
Hallett M, Stone J, Carson A. Functional neurologic disorders. Handb Clin Neurol. 2018;139:1-641.
4.
Barnett C, Armes J, Smith C. Speech, language and swallowing impairments in functional neurological disorder: a scoping review. Int J Lang Commun Disord. 2019 May;54(3):309-20. DOI: 10.1111/1460-6984.12448 External link
5.
Ludwig L, Pasman JA, Nicholson T, Aybek S, David AS, Tuck S, Kanaan RA, Roelofs K, Carson A, Stone J. Stressful life events and maltreatment in conversion (functional neurological) disorder: systematic review and meta-analysis of case-control studies. Lancet Psychiatry. 2018 Apr;5(4):307-20. DOI: 10.1016/S2215-0366(18)30051-8 External link
6.
Baker J, Barnett C, Cavalli L, Dietrich M, Dixon L, Duffy JR, Elias A, Fraser DE, Freeburn JL, Gregory C, McKenzie K, Miller N, Patterson J, Roth C, Roy N, Short J, Utianski R, van Mersbergen M, Vertigan A, Carson A, Stone J, McWhirter L. Management of functional communication, swallowing, cough and related disorders: consensus recommendations for speech and language therapy. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2021 Oct;92(10):1112-25. DOI: 10.1136/jnnp-2021-326767 External link