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40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Eignet sich die subjektive Einschätzung des Schluckvermögens durch den Fragebogen DHI zur Indikation einer Dysphagietherapie?

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Carina Würth - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Klinikum der Universität Regensburg, Deutschland
  • Michael Niederle - Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie, Klinikum der Universität Regensburg, Deutschland
  • Matthias Hautmann - Klinikum Traunstein, Deutschland
  • Christoph Süß - Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie, Klinikum der Universität Regensburg, Deutschland
  • author Peter Kummer - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Klinikum der Universität Regensburg, Deutschland
  • author Sarah Vester - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Klinikum der Universität Regensburg, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocV26

doi: 10.3205/24dgpp32, urn:nbn:de:0183-24dgpp320

Published: August 20, 2024

© 2024 Würth et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Eine oropharyngeale Dysphagie ist eine häufige Funktionsstörung im Rahmen einer Kopf-Hals-Tumor-Erkrankung (KHT) und deren Therapie. Sie ist mit schwerwiegenden Folgen, darunter Malnutrition und Pneumonien, assoziiert. Das primäre Diagnoseinstrument zur Feststellung einer Dysphagie ist eine instrumentelle Untersuchung, die nicht überall verfügbar ist. Ziel dieser Studie war es, die Anwendbarkeit eines Fragebogens (Dysphagia Handicap Index DHI) zur Feststellung einer oropharyngealen Dysphagie bei Patienten mit KHT nach Strahlentherapie zu untersuchen.

Material und Methoden: 95 Patienten nach primärer oder adjuvanter Strahlentherapie bei KHT füllten den DHI aus und erhielten eine FEES mit unterschiedlichen Konsistenzen. Die Penetrations-Aspirations-Skala nach Rosenbek (PAS) wurde zur Einschätzung der Schlucksicherheit verwendet, die Residuen wurden anhand der Yale Pharyngeal Residue Severity Rating Scale (YRS) klassifiziert. Zum Vergleich zwischen DHI und FEES wurden Spearmans-Korrelationskoeffizienten und der Kruskal-Wallis-Test berechnet. Mittels ROC-Analyse und Sensitivitäts- und Spezifitätswerten wurde die Diskriminationsfähigkeit des DHI beurteilt.

Ergebnisse: Zwischen dem DHI und den PAS- bzw. YRS-Scores konnten einzelne signifikante schwache bis moderate Korrelationen gefunden werden (p<0.05). Im Kruskal-Wallis-Test konnte nur ein signifikanter Unterschied zwischen Patienten, die eine Aspiration zeigten und Patienten mit einer Penetration in der FEES festgestellt werden (p=0.012). Da die ROC-Analyse niedrige AUC-Werte für alle Endpunkte ergab, konnten keine geeigneten Cut-off-Werte für den DHI-Gesamtscore oder die Unterkategorien berechnet werden. Die Analyse der Prädiktionskraft des DHI erbrachte u.a. eine Sensitivität für die Erkennung einer Aspiration von 0.684 und eine Spezifität von 0.539.

Diskussion: Sowohl die ROC-Analyse als auch die Berechnung der Güteindizes ergaben eine schwache Prädiktionskraft des DHI. Außerdem kann der Fragebogen nur unzureichend zwischen verschiedenen Schweregraden der Schluckstörung unterscheiden. Ein limitierender Faktor ist, dass die Patientenzahl in dieser Untersuchung eher klein war, sodass eine Übertragung auf die Grundgesamtheit nur eingeschränkt möglich ist.

Fazit: Aufgrund der schwachen Vorhersagekraft sollte die subjektive Einschätzung der Dysphagie durch den Patienten mittels DHI nicht als alleiniges Instrument zur Diagnose einer Dysphagie verwendet werden. Er eignet sich eher als zusätzliches Instrument zur Erfassung der Lebensqualität, denn als Screening-Methode.


Text

Hintergrund

Eine oropharyngeale Dysphagie (OD) ist eine häufige Funktionsstörung im Rahmen einer Kopf-Hals-Tumor-Erkrankung (KHT) und deren Therapie [1], [2]. Folgen wie Malnutrition, Dehydratation und Aspirationspneumonie sind prognoserelevant, die beträchtlichen Auswirkungen auf die Lebensqualität stehen für die Patientinnen und Patienten aber oft im Vordergrund [3], [4], [5]. Als Goldstandard zur Diagnostik gelten die Videofluoroskopie (VFS) und die flexible endoskopische Evaluation des Schluckvorgangs (FEES®) [6], [7]. Da diese Untersuchungen ressourcenintensiv und nicht überall verfügbar sind, wird oft die Frage gestellt, ob ein vorheriges Screening oder Triageinstrument, beispielsweise Patient-Reported Outcome Measures (PROM), die Auswahl, welche Patienten eine solche Untersuchung erhalten sollten, erleichtern könnte. Ziel dieser Studie war es, die Anwendbarkeit eines in diesem Zusammenhang noch wenig untersuchten Fragebogens (Dysphagia Handicap Index DHI [8], [9]) zur Feststellung einer OD bei Patienten mit KHT nach Strahlentherapie zu überprüfen.

Material und Methoden

Insgesamt 95 Patienten nach primärer oder adjuvanter Strahlentherapie bei KHT, die sich zur Nachuntersuchung in der Poliklinik für Strahlentherapie vorstellten, wurden im Zeitraum zwischen 09/2020 und 04/2021 in Kooperation der Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und der Klinik für Strahlentherapie des Universitätsklinikums Regensburg untersucht. Der Beginn der Strahlentherapie musste dabei >90 Tage zurückliegen, um Akuttoxizitäten durch die Therapie auszuschließen, außerdem durfte keine Laryngektomie erfolgt sein. Alle Patienten füllten den DHI aus und wurden anschließend mittels FEES® untersucht.

Der DHI besteht aus 25 Einzelfragen, zu beantworten auf einer dreistufigen Skala, sowie zusätzlich einer Schweregradskala von 1–7. Unterteilen lässt sich der DHI in 3 Unterkategorien: Physisch (9 Items), Funktionell (9 Items) und Emotional (7 Items) [8].

Im Rahmen der FEES® wurden drei verschiedene Konsistenzen in unterschiedlichen Bolusgrößen geprüft: Gallertige Kost (1 bzw. konsekutiv 3 Teelöffel (TL) Götterspeise), feste Kost (3 Stücke Zwieback), flüssige Kost (1 TL bzw. konsekutiv 200 ml Wasser aus dem Becher). Die Penetrations-Aspirations-Skala nach Rosenbek (PAS) [10], [11] wurde zur Einschätzung der Schlucksicherheit verwendet, die Residuen wurden anhand der Yale Pharyngeal Residue Severity Rating Scale (YRS) [12], [13] klassifiziert. Ein PAS ≥3 wurde als Penetration gewertet, ein PAS ≥6 als Aspiration. Eine therapierelevante Dysphagie wurde darüber hinaus als YRS ≥3 und/oder PAS ≥3 definiert.

Zum Vergleich zwischen DHI und FEES® wurden Spearmans-Korrelationskoeffizienten und der Kruskal-Wallis-Test berechnet. Mittels ROC-Analyse und Sensitivitäts- und Spezifitätswerten sowie der diagnostischen Odds Ratio (OR) wurde die Prädiktionskraft des DHI beurteilt.

Ergebnisse

Insgesamt zeigten 73 Patienten (76,8%) eine therapierelevante Dysphagie, 39 Patienten (41,1%) eine Penetration oder Aspiration und 19 Patienten (20,0%) eine Aspiration, davon 4 (4,2%) eine stille Aspiration.

In der Korrelationsanalyse zeigten sich sowohl für die Schlucksicherheit als auch für die Residuen mehrere signifikante Korrelationen. Außerdem wurde ein Kruskal-Wallis-Test zum Vergleich der PAS-Schwergrade (eingeteilt in „Normal“ PAS 1-2, „Penetration“ PAS 3–5, „Aspiration“ PAS 6–8) bzw. der YRS-Schweregrade (eingeteilt in Grad 1 und 2, Grad 3, Grad 4, Grad 5) bezogen auf den DHI Gesamt durchgeführt. Hier konnte nur ein signifikanter Unterschied zwischen Patienten mit Aspiration zu Patienten mit Penetration in der FEES® festgestellt werden (p=0,012), nicht jedoch zur Gruppe mit normaler Schluckfunktion. Für die einzelnen YRS-Schweregrade konnten keine signifikanten Unterschiede gefunden werden.

Um die Prädiktionskraft des DHI beurteilen zu können, wurde eine ROC-Analyse zu den jeweiligen Endpunkten durchgeführt (Abbildung 1 [Abb. 1]). Aus der Synopse ergab sich keine ausreichende Diskriminationsfähigkeit des DHI, alle AUC-Werte lagen unter einem Grenzwert von 0,7, lediglich der AUC-Wert für die Unterkategorie „funktionell“ bei PAS ≥6 lag darüber. Somit konnten keine geeigneten Cut-off-Werte berechnet werden. Die fehlende Trennschärfe spiegelte sich auch in den Ergebnissen der Testgüteberechnungen wider, wenn jeweils der Median als Cut-off-Wert verwendet wurde (Tabelle 1 [Tab. 1]). So lag die Sensitivität des DHI für die Erkennung einer Aspiration bei 0,684, die Spezifität bei 0,539. Die höchste Prädiktionskraft zeigte wiederum die Unterkategorie „funktionell“ in der Erkennung einer Aspiration mit einer Sensitivität von 0,842, einer Spezifität von 0,487 sowie einer OR von 5,06 (p=0,015).

Diskussion

Der DHI scheint sich in diesem Patientenkollektiv nicht als Screening- oder Triageinstrument vor einer instrumentellen Untersuchung zu eignen. Zwar gibt es einen Einfluss der Dysphagie auf die Lebensqualität, wie in der Untersuchung der Korrelationen zwischen DHI und FEES® festgestellt werden konnte, allerdings wiesen die Varianz- und ROC-Analyse auf eine äußerst schwache Diskriminationsfähigkeit des DHI hin. So fand sich allein ein signifikanter Unterschied im Ergebnis des DHI zwischen Patienten mit Penetration zu Patienten mit Aspiration, kein signifikanter Unterschied jedoch bei normaler Schluckfunktion gegenüber Aspiration. Der YRS-Schweregrad schien keinen Einfluss auf das DHI-Ergebnis zu haben. Ähnliches zeigte auch die ROC-Analyse, lediglich zwischen der Unterkategorie „funktionell“ und Aspiration ergab sich ein akzeptabler AUC-Wert und ein signifikanter Zusammenhang in der Testgüteanalyse. Die Selbstwahrnehmung von Schluckbeschwerden und die objektiv messbare Schluckfunktion stimmen damit nicht ausreichend überein. Als limitierender Faktor kann die geringe Patientenzahl genannt werden, die eine Übertragung auf die Grundgesamtheit nur eingeschränkt erlaubt.

Schlussfolgerung

Aufgrund der schwachen Vorhersagekraft und der fehlenden Diskriminationsfähigkeit zwischen verschiedenen Schweregraden der OD sollte die subjektive Einschätzung der OD durch den Patienten nach Bestrahlung eines KHTs mittels DHI nicht als Triageinstrument vor einer instrumentellen Diagnostik eingesetzt werden. Er eignet sich eher zur zusätzlichen Erhebung der Lebensqualität. Für eine vollständige Erfassung des Beschwerdebildes verdient allerdings die Lebensqualität genauso Beachtung wie funktionelle Aspekte, insofern sind PROMs eine wertvolle Ergänzung im Rahmen der Nachuntersuchung solcher Patienten.


Literatur

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