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Effektivität von Therapie für Sprachentwicklungsstörungen in verschiedenen Settings – Ergebnisse der randomisiert-kontrollierten Studie THESES
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Published: | August 20, 2024 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Die Forschung zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen (SES) richtet sich zunehmend auch auf deren Settings, Frequenz, Intensität und qualitative Therapiekomponenten (Frizelle et al.). Diese randomisiert-kontrollierte Studie untersucht die Wirksamkeit von SES-Therapie in den Settings (a) extensive vs. intensive, (b) Einzel- vs. Kleingruppen-, Präsenz- vs. Tele- (c), (d) ambulante vs. stationäre Therapie verglichen mit der üblichen extensiven Präsenz-Einzeltherapie einmal wöchentlich (Standardtherapie).
Material und Methoden: Nach randomisierter Zuteilung zu 4 Gruppen à 51 Kinder (Standardtherapie, extensive Tele-Einzeltherapie, intensive stationäre Therapie, intensive ambulante Kleingruppentherapie) erhielten 204 Kinder (3;0-6;11 Jahre) mit mindestens mittelschwerer SES 20 Sprachbehandlungen. Ein Warte-Kontrastdesgin wurde durch eine gruppeninterne 2. Randomisierung geschaffen. Sprachtestwerte (Wortschatz, Grammatik, Sprachverstehen, phonologisches Arbeitsgedächtnis) und der Anteil korrekt gebildeter Konsonanten wurden zum Studieneinschluss (T0), 12 Wochen später (T1) und ein Jahr nach Therapiebeginn (T2) erhoben.
Ergebnisse: Der Gesamtscore aller Sprachtests belegt langfristig (T2) Fortschritte für alle Settings, kurzfristig (T1) übersteigt der natürliche Sprachfortschritt den Effekt einer Standardtherapie.
Diskussion: Den größten Fortschritt in sämtlichen Sprachdomänen bis auf das Sprachverständnis erzielt die Teletherapie, gefolgt von der ambulanten Kleingruppentherapie, die im Sprachverständnis am besten abschneidet. An dritter Stelle liegt die Standardtherapie, die am besten auf Aussprache und phonologisches Arbeitsgedächtnis wirkt und am wenigsten auf den Wortschatz. Auch die stationäre Sprachtherapie für Kinder mit hartnäckigen SES ist langfristig in allen Domänen außer Grammatik wirksam.
Fazit: Teletherapie und ambulante Kleingruppenintensivtherapien, die bislang nicht zu den in Deutschland praktizierten Standardverfahren zählten, sollten stärker in der sprachtherapeutischen Praxis und Vergütung sowie im Heilmittelkatalog berücksichtigt werden und Indikationen für stationäre Therapien sollten großzügig gestellt werden.
Förderung: Studienförderung durch die Albert und Barbara von Metzler-Stiftung und die Leopold-Klinge-Stiftung.
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Hintergrund
Die Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen (SES, Prävalenz ca. 9,9%) gehört zu den häufigsten Therapien im Kindesalter in Deutschland [1]. Im Jahr 2022 erhielten allein die AOK-versicherten Kinder (3-14 Jahre) 4.345.000 Behandlungen, was einem Jahresvolumen von ca. 295 Millionen € entspricht [2]. Die Forschung zur Therapie von SES richtet sich zunehmend auch auf deren Settings, Frequenz, Intensität und qualitative Therapiekomponenten [3]. So zeigen Studien zur Wirksamkeit von Stottertherapien, dass Gruppentherapien effektiver sein können als Einzeltherapien [4]. Belege für die Wirksamkeit von Kleingruppentherapien bei SES fehlen weitgehend. Das gilt ebenfalls für Intensiv- und Online-Therapieformate.
Diese randomisiert-kontrollierte Studie untersucht die Wirksamkeit von Therapie bei (umschriebenen) SES (hier fehlen gravierende Komorbiditäten; Prävalenz ca. 7,6, ICD-10: F80, ICD-11: 6A01.2) bei Kindern im Alter von 3;0 bis 6;11 Jahren in den Settings (a) extensive vs. intensive, (b) Einzel- vs. Kleingruppen-, (c) Präsenz- vs. Online-, (d) ambulante vs. stationäre Therapie, verglichen mit der üblichen extensiven Präsenz-Einzeltherapie einmal wöchentlich (Standardtherapie).
Material und Methoden
Nach randomisierter Zuteilung zu drei Gruppen à 51 Kinder (Standardtherapie, extensive Tele-Einzeltherapie [Online-Therapie] und intensive ambulante Kleingruppentherapie) wurde durch eine gruppeninterne zweite Randomisierung ein Warte-Kontrastdesign geschaffen. Die Kinder der Interventionsgruppe starteten ihre Therapie direkt nach T0 (Studieneinschluss) in dem jeweiligen Behandlungssetting. Die Kinder der Warte-Kontrollgruppe erhielten in den ersten 3 Monaten keine Therapie. Die Kinder der intensiven stationären Therapie wurden in drei verschiedenen Kliniken zur stationären Sprachrehabilitation rekrutiert (Gelegenheitsstichprobe). Diese Kinder bildeten eine besondere Gruppe, da sie bereits seit 1-2 Jahren Sprachtherapie erhalten hatten, meist eine schwere SES aufwiesen und kaum oder keine Fortschritte (mehr) in der ambulanten Standardtherapie erzielten. Insgesamt erhielten 204 Kinder (3;0-6;11 Jahre) 20 Sprachbehandlungen in ihrem jeweiligen Setting. Alle Kinder wurden nach 3 Monaten einer erneuten Sprachdiagnostik (T1) unterzogen. Zwölf Monate nach Therapiebeginn wurde eine weitere Sprachdiagnostik (T2) durchgeführt (Zeitspanne T0-T2 für die Interventionsgruppe, Zeitspanne T1-T2 für die Warte-Kontrollgruppe). Die Sprachtestwerte (Wortschatz, Grammatik, Sprachverstehen, phonologisches Arbeitsgedächtnis) und der Anteil korrekt gebildeter Konsonanten (PCC) bildeten als Kompositionswert (Gesamt-Sprachtestwert) die Hauptzielgröße.
Ergebnisse
Der Gesamtscore aller Sprachtests belegt langfristig (T2) Fortschritte für alle Settings, kurzfristig (T1) unterscheidet sich der natürliche Sprachfortschritt nicht von dem Fortschritt einer Standardtherapie. Die Kinder der intensiven stationären Therapie zeigten über den gesamten Zeitraum T0-T2 kontinuierliche Fortschritte.
Langfristig waren sich die Kleingruppentherapie und die Standardtherapie ebenbürtig. Die Online-Therapie zeigte in der Hauptzielgröße signifikant größere Fortschritte als die Kleingruppen- und die Standardtherapie (Abbildung 1 [Abb. 1]).
Diskussion
Im kurzfristigen Vergleich zwischen Studieneinschluss (Zeitpunkt T0) und 3 Monate später (Zeitpunkt T1) erzielten sowohl die Online-Therapie-Gruppe (nach 8,96 Behandlungen) als auch die Kleingruppentherapie-Gruppe (nach 17 Behandlungen) im Vergleich zu Kindern der Warte-Kontrollgruppe signifikant größere Fortschritte. Die Fortschritte der Kinder mit Standardtherapie (nach 7,83 Behandlungen) unterschieden sich nicht signifikant von dem Fortschritt der Kinder der Warte-Kontrollgruppe. Letztgenanntes Ergebnis ist unerwartet und vielleicht auf die für die Kinder ungewohnte Situation in der Praxis und das überwiegende Fehlen der Eltern während der Standardtherapie zurückzuführen.
Die Ergebnisse belegen zudem, dass langfristig die zur Standardtherapie alternativen Behandlungssettings Online- und Kleingruppentherapie der Standardtherapie nicht unterlegen sind. Für den Gesamt-Sprachtestwert wurden nach einjährigem Beobachtungszeitraum signifikant größere Fortschritte für die Online-Therapie im Vergleich zur Standardtherapie und Kleingruppentherapie gefunden. Dieser Erfolg könnte auf den hohen kommunikativen Anteil in der Online-Therapie zurückzuführen sein. Ein weiterer Faktor könnte die Anwesenheit und damit das Empowerment der Eltern sein. Nach einem Jahr unterschieden sich die Ergebnisse der Kleingruppen- und der Standardtherapie nicht mehr.
Für die Kinder des stationären Therapiesettings ist jeder Fortschritt als Gewinn zu bewerten, besonders nach den meist vorausgegangenen Stagnationen im Sprachfortschritten unter einer ambulanten Therapie. Positiv ist die kontinuierliche Steigerung der sprachlichen Leistungen dieser Kinder, auch über T1 hinaus, da die Therapie als Standardtherapie fortgesetzt wurde. Am Ende zeigten von den 51 Kindern dieser Gruppe lediglich 10 Kinder bis zum Schulalter eine persistierende SES.
Fazit
Online-Therapie und ambulante Kleingruppenintensivtherapie, die bislang nicht zu den in Deutschland praktizierten Standardverfahren zählen, sollten stärker in der sprachtherapeutischen Praxis und Vergütung sowie im Heilmittelkatalog berücksichtigt werden. Die von den Krankenkassen vorgegebene Begrenzung der Anzahl an online durchgeführten Behandlungen auf 30% pro Leistungserbringende sollte gestrichen werden. Die Indikationen für stationäre Therapien sollten großzügig gestellt und Kapazitäten ausgebaut werden.
Förderung
Studienförderung durch die Albert und Barbara von Metzler-Stiftung und die Leopold-Klinge-Stiftung.
Literatur
- 1.
- Neumann K, Kauschke C, Fox-Boyer A, Lüke C, Sallat S, Kiese-Himmel C. Interventions for Developmental Language Delay and Disorders. Dtsch Arztebl Int. 2024 Mar 8;121(5):155-62. DOI: 10.3238/arztebl.m2024.0004
- 2.
- Waltersbacher A; WIdO – Wissenschaftliches Institut der AOK. Heilmittelbericht 2023/2024: Ergotherapie, Sprachtherapie, Physiotherapie, Podologie. Berlin: WIdO; 2023.
- 3.
- Frizelle P, Tolonen AK, Tulip J, Murphy CA, Saldana D, McKean C. The Impact of Intervention Dose Form on Oral Language Outcomes for Children With Developmental Language Disorder. J Speech Lang Hear Res. 2021 Aug 9;64(8):3253-88. DOI: 10.1044/2021
- 4.
- Euler HA, Lange BP, Schroeder S, Neumann K. The effectiveness of stuttering treatments in Germany. J Fluency Disord. 2014 Mar;39:1-11. DOI: 10.1016/j.jfludis.2014.01.002