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Kontinuierliche Altersnormen im Leipziger Sprach-Instrumentarium Jugend
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Published: | August 20, 2024 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Das Leipziger Sprach-Instrumentarium Jugend (LSI.J) ist ein Tablet-basiertes Diagnostik-Instrumentarium zur Überprüfung des Hör-/Sprachverstehens bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mit 10 Tests überprüft es 5 Kernbereiche des Sprachverstehens: frühe Lautverarbeitung, Lexikon, Syntax, pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten sowie visuelle und auditive Aufmerksamkeit. Das Verfahren zielt auf eine Verbesserung der Diagnostik für Jugendliche und Erwachsene mit persistierenden Entwicklungsstörungen wie AVWS und Sprachentwicklungsstörungen. Die Tests sind so konstruiert, dass sie vor allem im unteren Leistungsbereich gut differenzieren.
Für die Normierung wurde ein Verfahren gesucht, das
- 1.
- einheitlich für alle Tests verwendet werden kann,
- 2.
- normalverteilte, aber auch schiefe Rohwert-Verteilungen verarbeiten kann und
- 3.
- keine Altersstufen-Sprünge in den Normwerten erzeugt.
Die über das Alter kontinuierliche, nicht-parametrische Normierung nach Lenhard und Kolleg*innen wurde als Möglichkeit identifiziert, diese Anforderungen abzudecken.
Material und Methoden: An der Normierung nahmen 446 Jugendliche im Alter von 14 bis 22 Jahren teil, 263 weiblich, 182 männlich. Die Jugendlichen hatten entweder Deutsch als Muttersprache oder besuchten seit mindestens 7 Jahren eine deutsche Kita/Schule.
Für 3 Tests wurden keine Normen erstellt, sondern entweder ein Cut-Off-Wert festgelegt oder qualitative Auswertungen erstellt. Für alle anderen Tests wurden die Rohwerte als kontinuierliche Funktion über das Alter mit dem R-Paket cNORM modelliert.
Ergebnisse: Die Verteilung der Rohwerte für die einzelnen Tests fiel erwartungsgemäß heterogen aus. Es gab normal- und schief verteilte Rohwerte. Die berechneten Norm-Modelle wiesen für alle einbezogenen Tests eine hohe Anpassungsgüte auf (R2-Wert zwischen 96,2 und 99,5%). Ebenfalls erwartbar für 14- bis 22-Jährige zeigten sich keine oder nur geringe Alterseffekte.
Diskussion: Die Verwendung kontinuierlicher Normen erwies sich für LSI.J-Sprachtests insgesamt als passend. Alle Tests, die nicht qualitativ oder per Cut-Off-Wert arbeiten, konnten mit dem Verfahren normiert werden.
Fazit: Die kontinuierliche Normierung ist ein geeignetes Normierungsverfahren bei schiefen Rohwert-Verteilungen und kontinuierlichen Fähigkeitsprofilen über das Alter. Bei einer zukünftigen Erweiterung der Norm-Stichproben auf jüngere Kinder oder Erwachsene lassen sich mit diesem Verfahren stufenlos Veränderungen in den Fähigkeitsprofilen abbilden.
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Hintergrund
Das Leipziger Sprach-Instrumentarium Jugend (LSI.J) ist ein Tablet-basiertes Diagnostik-Instrumentarium zur Überprüfung des Hör-/Sprachverstehens bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen [1]. Mit 10 Tests überprüft es 5 Kernbereiche des Sprachverstehens: frühe Lautverarbeitung, Lexikon, Syntax, pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten sowie visuelle und auditive Aufmerksamkeit.
Aus der Konstruktion der LSI.J-Testverfahren ergeben sich verschiedene Herausforderungen an eine Normierung. Zum einen zielen die Tests auf eine Verbesserung der Verfügbarkeit diagnostischer Mittel für Jugendliche und Erwachsene mit persistierenden Entwicklungsstörungen wie Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen oder Sprachentwicklungsstörungen. Aus diesem Grund sind die Tests so konstruiert, dass sie vor allem im unteren Leistungsbereich gut differenzieren. Deswegen erwarteten wir teils schiefe Rohwertverteilungen. Konventionelle Normierungsverfahren berechnen Verteilungsparameter jedoch unter der Annahme, dass die Rohwerte normalverteilt sind. Zum anderen deckt das LSI.J eine relativ große Alterspanne von 14–22 Jahre ab. In diesem Altersbereich erwarteten wir keine großen altersbedingten Veränderungen. Perspektivisch planen wir jedoch den Altersbereich zu erweitern, weshalb wir dann größere Alterseffekte erwarten. Konventionelle Normierungsverfahren berechnen Normwerte innerhalb diskreter Altersgruppen, wofür große Stichproben pro Altersgruppe benötigt werden und was zu Sprüngen zwischen den Normwerten benachbarter Altersgruppen führen kann. Für große Stichproben stehen in dem Drittmittel-geförderten Projekt keine ausreichenden finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Trotz der Vielfalt von LSI.J-Tests mit erwartbar unterschiedlichen Rohwertverteilungen und verschieden ausgeprägten Alterseffekten strebten wir ein einheitliches Normierungsverfahren an.
Eine mögliche Lösung könnten kontinuierliche Normierungsverfahren darstellen [2]. Die über das Alter kontinuierliche, semi-parametrische Normierung nach Lenhard und Kolleg*innen [3] wurde als Möglichkeit identifiziert, die Anforderungen des LSI.J abzudecken. Diese Modellierung macht keine Annahmen über die Rohwertverteilung und kann daher Verteilungen mit Deckeneffekten gut abbilden. Durch Regressionsmodelle entstehen keine Normwerte für diskrete Altersgruppen, sondern kontinuierliche Normwerte. Außerdem wird mit diesem Verfahren der gesamte Datensatz für die Modellierung genutzt. Dadurch sind kleinere Stichproben möglich.
Material und Methoden
Die Normierungstestungen für die LSI.J-Tests fanden von Oktober 2018 bis Juli 2019 in den Bundesländern Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg an weiterführenden Schulen statt. An den Testungen nahmen 446 Proband*innen im Alter von 14 bis 22 Jahren teil, 263 weiblich, 182 männlich. Die Jugendlichen hatten entweder Deutsch als Muttersprache oder besuchten seit mindestens 7 Jahren eine deutsche Kita/Schule.
Für 3 Tests wurden keine Normen erstellt, sondern entweder ein Cut-Off-Wert festgelegt oder qualitative Auswertungen erstellt. Der Test Phonem-Diskrimination wurde so konstruiert, dass sehr starke Deckeneffekte auftreten sollten. Die Normdaten bestätigen, dass ein Cut-Off-Wert von 2 Fehlern bei 40 Items sinnvoll ist. Der Test Semantisches Differenzieren erfragt eine subjektive Einschätzung. Deshalb wird hierfür nur qualitativ die Übereinstimmung der Antworten einer Testperson mit Mehrheiten aus der Normierung angegeben (wenn 10% oder mehr Personen aus der Normstichprobe diese Antwort-Kombination ebenfalls gewählt haben). Für die visuellen und auditiven Aufmerksamkeitstests werden die Anzahl der Treffer und der falschen Alarme ausgewertet.
Für 13 Test-Skalen (Dichotisches Hören rechts, links und biaural, Schnelles Benennen Nomen, Komposita und Oberbegriffe, Lexikalisches Entscheiden Wörter und Pseudo-Wörter, Sätze Verstehen, Kunstwortsätze Nachsprechen Grammatik, Kunstwortsätze Nachsprechen Pseudo-Wörter, Kohärenzen Bilden, Absichten Verstehen) wurden die Rohwerte als kontinuierliche Funktion über das Alter mit dem R-Paket cNORM [4] modelliert. Dazu werden nach konventioneller Berechnung die Lokation (Perzentil) und der Normwert innerhalb von definierten Altersgruppen ermittelt. Mit Hilfe von Taylor-Reihen werden polynomiale Regressionsmodelle mit den Prädiktoren Lokation und Alter und deren Interaktionen erstellt, um die Ausprägung des Rohwertes zu erklären. Anschließend wurden die signifikanten Terme ermittelt und das beste Modell ausgewählt.
Ergebnisse
Die Verteilung der Rohwerte für die einzelnen LSI.J-Tests fiel erwartungsgemäß heterogen aus. Es gab normal- (z.B. Dichotisches Hören) und schief-verteilte (z.B. Lexikalisches Entscheiden Pseudo-Wörter) Rohwerte. Ebenfalls erwartbar für 14- bis 22-Jährige zeigten sich keine oder nur geringe Alterseffekte. Die berechneten kontinuierlichen Norm-Modelle wiesen für alle einbezogenen Skalen eine hohe Anpassungsgüte auf (R2-Wert zwischen 96,2 und 99,5%).
Für die entsprechenden Skalen wurden Rohwert-Tabellen für jeden Altersmonat generiert. In der LSI.J-App werden das Testalter in Monaten und der Rohwert verwendet, um den Normwert einer Testperson in diesen Tabellen „nachzuschlagen“. Die App berechnet automatisiert quantitative und qualitative Ergebnisse einer Testperson. Außerdem ist es möglich, die Ergebnisse in Bezug zu einzelnen Operationalisierungen und auf Item-Ebene anzeigen zu lassen.
Diskussion
Die Verwendung kontinuierlicher Normen erwies sich für die ausgewählten LSI.J-Sprachtests insgesamt als passend. Alle Tests, die nicht qualitativ oder per Cut-Off-Wert arbeiten, konnten mit dem Verfahren normiert werden.
Die Norm-Modelle für jede Skala und die Details zur Normstichprobe und der Normierung sollen in einem Normwert-Rechner online frei zur Verfügung gestellt werden. In diesem Normwert-Rechner soll auch die Berechnung von Normwerten anhand von hypothetischem Alter und Rohwert möglich sein.
Fazit
Die kontinuierliche Normierung ist ein geeignetes Normierungsverfahren bei schiefen Rohwert-Verteilungen und kontinuierlichen Fähigkeitsprofilen über das Alter. Bei einer zukünftigen Erweiterung der Norm-Stichproben auf jüngere Kinder oder Erwachsene lassen sich mit diesem Verfahren stufenlos Veränderungen in den Fähigkeitsprofilen modellieren.
Literatur
- 1.
- Krause CD, Wagner S, Holzgrefe-Lang J, Lorenz E, Oelze V, Schütz V, Peinhardt U, Glück CW. Diagnostik des auditiven Sprachverstehens bei Jugendlichen – die App „Leipziger Sprach-Instrumentarium Jugend“ (LSI.J). In: Fritzsche T, Breitenstein S, Wunderlich H, Ferchland L, Krug R, editors. Nur ein Wort? Diagnostik und Therapie von Wortabrufstörungen bei Kindern und Erwachsenen. Potsdam: Universitätsverlag; 2020. p. 87-98.
- 2.
- Urban J, Scherrer V, Strobel A, Preckel F. Continuous Norming Approaches: A Systematic Review and Real Data Example. Assessment. Forthcoming.
- 3.
- Lenhard A, Lenhard W, Gary S. Continuous norming of psychometric tests: A simulation study of parametric and semi-parametric approaches. PLoS One. 2019;14(9):e0222279. DOI: 10.1371/journal.pone.0222279
- 4.
- Lenhard A, Lenhard W, Gary S. Continuous Norming (cNORM): The Comprehensive R Archive Network. 2018.