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Neurophysiologische Evidenz des kindlichen Wortschatzerwerbs innerhalb des ersten Jahres nach Cochlea-Implantation
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Published: | August 20, 2024 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Während der Spracherwerb bei normalhörenden Kindern recht gut erforscht ist, stellt sich bei Kindern mit Cochlea-Implantaten (CI-Kinder) immer noch die Frage, wie sich eine längere Phase fehlenden Sprachinputs und ein eingeschränkterer Höreindruck auf einzelne Phasen des Spracherwerbs auswirkt. In einer früheren EEG-Studie zum Wortschatzerwerb ab 12 Monaten nach CI-Aktivierung fanden wir überraschend, dass CI-Kinder trotz des eingeschränkteren Höreindrucks schneller im Wortschatzerwerb sind als normalhörende Kinder (NH-Kinder) gleichen Höralters. Das höhere Lebensalter der CI-Kinder führt offenbar dazu, dass die damit einhergehenden kognitiven Fähigkeiten (bessere Merkfähigkeit etc.), den Sprachrückstand teilweise kompensieren können.
In dieser Nachfolgestudie betrachten wir nun erstmals CI-Kinder noch jüngeren Höralters, um den Anfangszeitpunkt eines relevanten Wortschatzerwerbs darzustellen und vergleichen dies mit Daten normalhörender Kinder gleichen Höralters. Der N400-Effekt dient hier als elektrophysiologischer Marker: Ist ein Wort fest im Wortschatz aufgenommen, löst eine falsche Benennung des Objekts ein negativeres Potential aus, als die korrekte Benennung. Unsere Hypothese war, dass bei CI-Kindern ein signifikanter N400-Effekt schon unter einem Jahr CI-Nutzung zu finden ist.
Material und Methoden: Es wurden EEG-Daten bei früh versorgten, bilateral implantierten Kindern mit einer Hörerfahrung von 7, 10 und 12 Monaten erhoben (jeweils N=13, N=22, N=25), sowie Kontrolldaten von 10, 12 und 14 Monate alten NH-Kindern (jeweils N=29, N=34, N=28). Die Kinder sahen Bilder und hörten dabei ein passendes oder unpassendes Wort. Ein t-Test berechnete in jeweils 200 ms-Abschnitten ab Wort-Onset den Potentialunterschied der passenden vs. unpassenden Bedingung für die Elektrode Pz.
Ergebnisse: Die EEG-Daten zeigen für die CI-Kinder schon mit 7 Monaten einen schwachen, aber signifikanten N400-Effekt (700-900 ms: p= .048; 900-1100 ms: p= .02), der sich nach 10 Monaten noch verstärkt (300-500 ms: p= .006; 500-700 ms: p< .001; 700-900 ms: p= .026; 900-1100 ms: p= .023; 1100-1300 ms: p= .035). Die NH-Kinder zeigen mit 12 Monaten einen geringen aber signifikanten N400-Effekt im Zeitfenster 300-500 ms (p= .048), der erst mit 14 Monaten stark ausgeprägt ist (Zeitfenster 300-500 ms: p= .022; 500-700 ms: p= .003; 700-900 ms: p= .024).
Diskussion: Wir finden bereits nach 7-monatiger CI-Nutzung eine Wortschatzentwicklung, der bei normalhörenden Kindern erst mit 12 Monaten Hörerfahrung erreicht wird.
Fazit: Der Wortschatzerwerb ist für die CI-Kinder tatsächlich mind. 2 Monate früher als für NH-Kinder gleichen Höralters nachzuweisen.
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Hintergrund
Bei tauben Kindern mit Cochlea-Implantaten (CI-Kinder) stellt sich die Frage, wie sich eine längere Phase fehlenden Sprachinputs und ein eingeschränkter Höreindruck auf einzelne Phasen des Spracherwerbs auswirken. Unsere EEG-Studie zum Wortschatzerwerb ein Jahr nach CI-Aktivierung fand überraschend heraus, dass selbst kongenital ertaubte CI-Kinder mit 12 Monaten Hörerfahrung trotz des eingeschränkteren Höreindrucks schneller im Wortschatzerwerb sind als normalhörende Kinder (NH-Kinder) [1], [2]. Bei den CI-Kindern führt das höhere Lebensalter beim Spracheintritt offenbar dazu, dass die damit einhergehenden kognitiven Fähigkeiten (bessere Merkfähigkeit etc.), den Sprachrückstand im Wortschatzbereich kompensieren können.
In dieser Nachfolgestudie betrachten wir nun erstmals CI-Kinder noch jüngeren Höralters (sieben und zehn Monate), um den Anfangszeitpunkt eines relevanten Wortschatzerwerbs bestimmen zu können. Der N400-Effekt dient hier als elektrophysiologischer Marker: Ist ein Wort fest im Wortschatz verankert, löst eine falsche Benennung des Objekts ein negativeres Potential aus, als die korrekte Benennung [3].
Dasselbe Paradigma mit identischen Stimuli löste bei normalhörenden Kindern nur im Fall eines überdurchschnittlich schnellen Wortschatzerwerbs bereits im Alter von zwölf Monaten einen stabilen N400-Effekt aus, andernfalls erst mit 14 Monaten [2], [4]. Die Kontrollgruppen normalhörender Kinder wurden deshalb im Alter von zehn Monaten (Effekt nicht erwartet), zwölf Monaten (Effekt unwahrscheinlich) und 14 Monaten (Effekt erwartet) erhoben. Unsere Hypothese war, dass bei CI-Kindern ein signifikanter N400-Effekt schon unter einem Jahr CI-Nutzung und damit früher als bei normalhörenden Kindern zu finden ist.
Material und Methoden
Es wurden EEG-Daten bei früh versorgten, bilateral implantierten Kindern mit einer Hörerfahrung von sieben, zehn und zwölf Monaten erhoben (s. Tabelle 1 [Tab. 1]), sowie Kontrolldaten von zehn, zwölf und 14 Monate alten NH-Kindern (s. Tabelle 2 [Tab. 2]). Die Kinder sahen Bilder und hörten dabei die dazu passende Bezeichnung (kongruente Bedingung) oder eine unpassende Bezeichnung (inkongruente Bedingung, z.B. Bild „Apfel“ + Wort „Teddy“). Es kamen insgesamt 44 in Bilderbuchart gezeichnete Objekte und 44 kindgerecht gesprochene Wörter zum Einsatz, die dem ersten Grundwortschatz eines Kleinkinds entstammen. Die Wort-Bild-Paare wurden pseudorandomisiert in zwei Blöcken präsentiert. Jedes Bild wurde innerhalb eines Blocks einmal inkongruent und einmal kongruent zum auditiven Wort präsentiert, so dass insgesamt 176 Trials präsentiert wurden. Das gemittelte evozierte Potential der inkongruenten Bedingung innerhalb eines 200 ms-Fensters auf der Elektrode Pz wurden mittels gepaartem t-Test mit dem Potential der kongruenten Bedingung verglichen.
Ergebnisse
Die EEG-Daten zeigen für die CI-Kinder schon mit sieben Monaten einen schwachen, aber signifikanten N400-Effekt (700-900 ms: [t(12) = -2,2, p= .048]; 900-1100 ms: [t(12) = -2,7 p= .02]), der sich nach zehn Monaten noch verstärkt (300-500 ms: [t(21) = -3,0, p= .006]; 500-700 ms: [t(21) = -4,0, p< .001]; 700-900 ms: [t(21) = -2,4, p= .026]; 900-1100 ms: [t(21) = -2,5, p= .023]; 1100-1300 ms: [t(21) = -2,3, p= .035]). Mit zwölf Monaten zeigen die CI-Kinder einen Effekt im Zeitfenster 300-500 ms [t(24) = -2,1, p= .043], sowie 700-900 ms [t(24) = -3,7, p= .001] und 900-1100 ms [t(24) = -3,1, p= .005].
Die normalhörenden Kinder zeigen mit zehn Monaten noch keinen signifikanten Unterschied zwischen der kongruenten und inkongruenten Bedingung. Mit zwölf Monaten weisen die NH-Kinder einen geringen, aber signifikanten N400-Effekt im Zeitfenster 300-500 ms [t(33) = -2,055, p=.048] auf, der sich mit 14 Monaten stark ausgeprägt zeigt (Zeitfenster 300-500 ms: [t(27) = -2,4, p=.022]; 500-700 ms: [t(27) = -3,2, p= .003]; 700-900 ms: [t(27) = -2,4, p= .024]).
Diskussion
Wir finden für die CI-Kinder in allen drei gemessenen Gruppen, angefangen bei sieben Monaten, einen signifikanten Unterschied für korrekt vs. falsch benannte Bilder. Bei den normalhörenden Kindern ist dagegen mit zehn Monaten noch keinerlei Differenzierung zwischen korrekten und falschen Benennungen zu finden. Erst mit zwölf Monaten zeigt sich bei den normalhörenden Kindern der Wortschatz gefestigt genug, so dass inkorrekte Benennungen einen signifikanten N400-Effekt auslösen.
Fazit
Wir finden für CI-Kinder einen um fünf Monate früheren Wortschatzerwerb als für NH-Kinder gleichen Höralters. Im nächsten Schritt soll herausgefunden werden, ob dies auch für die Untergruppe der kongenital ertaubten Kinder nachzuweisen ist, für die das Cochlea-Implantat auch tatsächlich den Erstzugang zur Sprache darstellt.
Literatur
- 1.
- Vavatzanidis NK, Mürbe D, Friederici AD, Hahne A. Establishing a mental lexicon with cochlear implants: an ERP study with young children. Scientific Reports. 2018 Jan 17;8(1):910.
- 2.
- Friedrich M, Friederici AD. Neurophysiological correlates of online word learning in 14-month-old infants. NeuroReport. 2008 Dec;19(18):1757-61.
- 3.
- Hahne A, Vavatzanidis NK, Zahnert T. Die N400-Komponente im EEG als Marker für Spracherwerb und Wortverarbeitung nach CI-Versorgung. Laryngorhinootologie. 2024 Apr;103(4):252-60.
- 4.
- Friedrich M, Friederici AD. Maturing brain mechanisms and developing behavioral language skills. Brain and Language. 2010 Aug;114(2):66-71.