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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Cologne

Die Bekanntheit der Stimme moduliert die Verarbeitung von Sprachlauten im Säuglingsalter: Eine EEG-Studie

Vortrag

  • author presenting/speaker Gisela Govaart - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • Katerina Chladkova - Karls-Universität, Prag, Tschech. Republik
  • Angela D. Friederici - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • corresponding author Claudia Männel - Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV2

doi: 10.3205/23dgpp02, urn:nbn:de:0183-23dgpp021

Published: September 20, 2023

© 2023 Govaart et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Säuglinge erwerben die Lautkategorien ihrer Muttersprache innerhalb des ersten Lebensjahres. Diese Erwerbleistung ist bemerkenswert, da es keine unveränderlichen akustischen Merkmale gibt, die Lautkategorien über verschiedene Sprecher hinweg eindeutig markieren. Da Säuglinge bereits von Geburt an unbekannte Stimmen unterscheiden und die Stimme ihrer Mutter erkennen können, stellt sich die Frage, ob Säuglinge diese Stimminformation für den Erwerb von sprachspezifischen Lautkategorien nutzen. Die vorliegende Studie untersucht, ob Säuglinge im Alter von 2-4 Monaten Sprachlaute besser unterscheiden können, wenn diese Laute von einer ihnen bekannten als von einer unbekannten Stimme gesprochen werden.

Material und Methoden: In einer EEG-Studie wird die Vokalverarbeitung von Deutsch lernenden Säuglingen (n = 32) im Alter von 2 bis 4 Monaten erfasst. Die Säuglinge werden in einem Vokaltraining zunächst für 5 min mit einem schwer zu unterscheidenden Vokalkontrast: /fɪ/–/fɛ/ (wie z.B. in „fit“ vs. „fett“) familiarisiert. In einem darauffolgenden Test werden die Säuglinge hinsichtlich ihrer Unterscheidung der Vokale untersucht, wenn diese von einer bekannten (Trainingsstimme) oder einer unbekannten Stimme gesprochen werden. Die Unterscheidungsleistung wird über die Mismatch-Reaktion (MMR) erfasst, die anzeigt, ob sich die Gehirnreaktionen der Säuglinge für häufig präsentierte Standardsilben (/fɛ/) und seltener präsentierte Abweichlersilben (/fɪ/) unterscheiden.

Ergebnisse: Die vorläufigen EEG-Daten (n = 13) zeigen, dass die Säuglinge auf die Vokalkontraste sowohl der bekannten als auch der unbekannten Stimme mit MMRs reagieren. Dies legt nahe, dass Säuglinge unabhängig von der Bekanntheit der Stimme zwischen /fɛ/ und /fɪ/ unterscheiden können. Allerdings zeigen die Säuglinge eine stärkere MMR für die Vokalunterscheidung bei der bekannten als der unbekannten Stimme, was auf einen Verarbeitungsvorteil für diejenigen Sprachlaute hinweist, die von einer bekannten Stimme gesprochen wurden.

Diskussion: Die vorläufigen Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Bekanntheit der Stimme die Unterscheidungsfähigkeit von Vokalen bei Deutsch lernende Säuglinge im Alter von 2-4 Monaten moduliert. Säuglinge unterscheiden bestimmte Laute ihrer Muttersprache besser, wenn sie diese von einer ihnen bekannten Stimme hören. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Stimminformation den Aufbau von Lautkategorien in der Sprachentwicklung unterstützt.


Text

Hintergrund

Säuglinge erwerben die Lautkategorien ihrer Muttersprache innerhalb des ersten Lebensjahres [1]. Diese Erwerbleistung ist bemerkenswert, da es keine unveränderlichen akustischen Merkmale gibt, die Lautkategorien über verschiedene Sprecher hinweg eindeutig markieren [2], [3]. Da Säuglinge bereits von Geburt an unbekannte Stimmen unterscheiden [4] und die Stimme ihrer Mutter erkennen können [5], stellt sich die Frage, ob Säuglinge diese Stimminformation für den Erwerb von sprachspezifischen Lautkategorien nutzen. Die vorliegende Studie untersucht, ob Säuglinge im Alter von 2-4 Monaten Sprachlaute besser unterscheiden können, wenn diese Laute von einer ihnen bekannten als von einer unbekannten Stimme gesprochen werden.

Material und Methoden

In einer EEG-Studie wird die Vokalverarbeitung von Deutsch lernenden Säuglingen (n = 32) im Alter von 2 bis 4 Monaten erfasst. Während der EEG-Aufzeichnung werden die Säuglinge in einem Vokaltraining zunächst für 5 min mit einem schwer zu unterscheidenden Vokalkontrast: /fɪ/–/fɛ/ (wie z.B. in „fit“ vs. „fett“) familiarisiert. In einem darauffolgenden Test werden die Säuglinge hinsichtlich ihrer Unterscheidung der Vokale untersucht, wenn diese von einer bekannten oder einer unbekannten Stimme gesprochen werden. Die bekannte Stimme ist jene der Sprecherin des Vokaltrainings, wohingegen die Säuglinge die Stimme der unbekannten Sprecherin zuvor noch nicht gehört haben. Die Unterscheidungsleistung zwischen den Vokalen wird über die Mismatch-Reaktion (MMR) erfasst, die anzeigt, ob sich die Gehirnreaktionen der Säuglinge für häufig präsentierte Standardsilben (/fɛ/) und seltener präsentierte Abweichlersilben (/fɪ/) unterscheiden.

Ergebnisse

Die vorläufigen EEG-Daten (n = 13) zeigen, dass die Säuglinge auf die Vokalkontraste sowohl der bekannten als auch der unbekannten Stimme mit MMRs reagieren. Dies legt nahe, dass Säuglinge unabhängig von der Bekanntheit der Stimme zwischen /fɛ/ und /fɪ/ unterscheiden können. Allerdings zeigen die Säuglinge eine stärkere MMR für die Vokalunterscheidung bei der bekannten als der unbekannten Stimme, was auf einen Verarbeitungsvorteil für diejenigen Sprachlaute hinweist, die von einer bekannten Stimme gesprochen wurden.

Diskussion und Fazit

Die vorläufigen Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Bekanntheit der Stimme die Unterscheidungsfähigkeit von Vokalen bei Deutsch lernenden Säuglingen im Alter von 2-4 Monaten moduliert. Säuglinge können bestimmte Laute ihrer Muttersprache besser unterscheiden, wenn sie diese von einer ihnen bekannten Stimme hören. Unsere Ergebnisse bedeuten auch, dass der Verarbeitungsvorteil für eine bekannte Stimme nicht nur für die Stimme der Mutter gilt, sondern auch für eine Sprecherin, mit der die Säuglinge nur akustisch familiarisiert wurden. Zusammenfassend lässt sich von den vorliegenden Ergebnissen ableiten, dass die Stimminformation den Aufbau von Lautkategorien in der Sprachentwicklung unterstützt.


Literatur

1.
Kuhl PK. Early language acquisition: cracking the speech code. Nat Rev Neurosci. 2004;5(11):831-843. DOI: 10.1038/nrn1533 External link
2.
Hillenbrand J, Getty LA, Clark MJ, Wheeler K. Acoustic characteristics of American English vowels. J Acoust Soc Am. 1995;97(5 Pt 1):3099-3111. DOI: 10.1121/1.411872 External link
3.
Liberman AM, Cooper FS, Shankweiler DP, Studdert-Kennedy M. Perception of the speech code. Psychol Rev. 1967;74(6):431-461. DOI: 10.1037/h0020279 External link
4.
Floccia C, Nazzi T, Bertoncini J. Unfamiliar voice discrimination for short stimuli in newborns. Dev Sci. 2000;3(3):333-343. DOI: 10.1111/1467-7687.00128 External link
5.
Kisilevsky BS, Hains SM, Lee K, Xie X, Huang H, Ye HH, Zhang K, Wang Z. Effects of experience on fetal voice recognition. Psychol Sci. 2003;14(3):220-224. DOI: 10.1111/1467-9280.02435 External link