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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Postoperativer Outcome bei spät implantierten CI-Kindern mit Migrationshintergrund

Poster

  • presenting/speaker Nina Theis - Cochlea Implantat-Zentrum Ruhrgebiet, Bochum, Deutschland
  • Jan Peter Thomas - St. Johannes Hospital, Dortmund, Deutschland
  • Katrin Neumann - Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Stefan Dazert - Cochlea Implantat-Zentrum Ruhrgebiet, Bochum, Deutschland
  • corresponding author Christiane Völter - Cochlea Implantat-Zentrum Ruhrgebiet, Bochum, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocP11

doi: 10.3205/22dgpp42, urn:nbn:de:0183-22dgpp423

Published: September 26, 2022

© 2022 Theis et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die wachsende Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund stellt aufgrund der häufig spät einsetzenden apparativen Versorgung und dem späten Kontakt mit der deutschen Sprache eine zunehmende Herausforderung im Rahmen der Hörrehabilitation dar. Ziel war die Erfassung der Hör-, Sprach-, und Kommunikationsentwicklung dieser Kinder.

Material und Methoden: Präoperativ, 6, 12 und 24 Monate postoperativ wurden die kognitive (SON-R) und sprachliche Entwicklung (SETK-2/3-5, SET5-10, TROG-D, PDSS, LittleEars, Therapeuteneinschätzung), das präoperative Hörvermögen (BERA) und p.o. Sprachverstehen (Mainzer/Göttinger Sprachtest) nach Leistungsstand und Alter erhoben. Zudem erfolgte eine standardisierte Befragung der Lehrpersonen.

Ergebnisse: Eingeschlossen wurden 20 Patienten, überwiegend aus Syrien (55%), dem Irak (15%) oder Balkangebiet (20%), die im Alter von 4–15 Jahren (MW 8,1; SD 3,25) einseitig (n=10, 7 auf Gegenseite hörgeräteversorgt, 3 unversorgt) oder beidseitig (n=10) implantiert wurden. 40% waren vermutlich seit Geburt beidseits taub, 20% hochgradig schwerhörig, bei 40% wurde eine hochgradige Schwerhörigkeit bis zum 3. Lebensjahr festgestellt. Präoperativ kommunizierten 75% ausschließlich mittels Gebärden, Blicken oder Gesten, 25% nutzten zusätzlich wenige Einzelwörter in der Muttersprache.

12 Monate postoperativ hatten 14 Kinder einen eingeschränkten deutschen Wortschatz erworben, 6 nur einzelne Wortkombinationen. Das Vorhandensein einer präoperativen Resthörigkeit (p=0.033), nicht jedoch das Alter bei Implantation (p=0.89) korrelierte mit der p.o. Wortschatzentwicklung. Nach 2 Jahren kommunizierten 26,7% nur mittels Gebärden oder Gesten, 66,6% mittels Lautsprache und Gebärden und 6,7% alleinig mittels Lautsprache. 40% verstanden situationsbedingte 1-/2-Wort-Äußerungen, 30% einfache situationsbedingte Fragen, 30% allenfalls ihren Namen. Das mittlere p.o. Sprachverstehen bei 65 dB/80 dB betrug nach 24 Monaten 60% (SD 17,06)/67,27% (SD 19,02). Im Schulunterricht nutzten die meisten Kinder Lautsprache mit Gebärden (52,9%), in der Peergroup vor allem Gebärden (58,8%). 70,6% der befragten Lehrpersonen schätzten das Selbstbewusstsein ihrer Schüler als sehr gut ein, 88,2% sahen subjektiv einen Profit durch das CI.

Fazit: Die CI-Versorgung scheint v.a. die kommunikativen und sozialen Fähigkeiten dieser Kinder zu unterstützen. Eine alleinige verbale Kommunikation bleibt bei dieser Patientengruppe die Ausnahme. Dies sollte in der präoperativen Beratung/Entscheidungsfindung der Eltern Berücksichtigung finden.


Text

Hintergrund

In Deutschland haben bereits heute ca. 39% aller Kinder unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund, 24% hiervon wurden in Deutschland geboren [1]. Die Gesundheitsversorgung dieser Personengruppe stellt auch im Rahmen der Hörrehabilitation eine Herausforderung dar [2], [3], da neben der sprachlichen Barriere oftmals im Heimatland eine späte oder nicht ausreichende Hörversorgung stattfand. Ziel der retrospektiven Studie war es daher, die Hör-, Sprach- und Kommunikationsentwicklung von spät implantierten Kindern mit Migrationshintergrund in der Initialrehabilitation nach Cochlea Implantation zu erfassen.

Material und Methodik

Präoperativ sowie 6, 12 und 24 Monate postoperativ wurden die kognitive (SON-R) und sprachliche Entwicklung (SETK2, SETK3-5, SET5-10, TROG-D, PDSS, LittleEars, Therapeuteneinschätzungen), das präoperative Hörvermögen (BERA) sowie das postoperative Sprachverstehen (Mainzer/Göttinger Sprachtest) in Abhängigkeit von Leistungsstand und Alter erhoben. Zudem erfolgte eine standardisierte telefonische Befragung der Lehrpersonen zu Kommunikationsformen im Unterricht und der Peergroup.

Ergebnisse

Eingeschlossen wurden 20 junge Patienten mit Migrationshintergrund, die zwischen 2016 und 2021 im CI Zentrum Ruhrgebiet (im Alter von 4–15 Jahren) (MW 8,1; SD 3,25), ein- (n=10, n=7 auf der Gegenseite hörgeräteversorgt) oder beidseitig (n=10) mit einem CI versorgt wurden. Nur die Hälfte der Kinder wurde präoperativ mit Hörgeräten versorgt, von denen 40% diese nicht regelmäßig trugen. Überwiegend stammten die Kinder aus Syrien (55%), dem Irak (15%) oder dem Balkangebiet (20%). 40% waren vermutlich seit Geburt beidseits taub, 20% hochgradig schwerhörig, bei 40% wurde eine hochgradige Schwerhörigkeit bis zum 3. Lebensjahr festgestellt. Eine leicht unterdurchschnittliche Intelligenz lag bei 30% vor, eine leichte Intelligenzminderung bei 25%, weitere 25% wiesen eine kombinierte Entwicklungsstörung auf. Alle Kinder wuchsen bilingual auf. Präoperativ kommunizierten 75% ausschließlich mittels Gebärden, Blicken oder Gesten, 25% nutzten zusätzlich wenige Einzelwörter in der Muttersprache. Postoperativ (p.o.) hatten 14 Kinder nach einer 12-monatigen CI-Erfahrung einen, wenn auch eingeschränkten, deutschen Wortschatz erworben, einige Kinder zeigten bereits Wortkombinationen (n=6). Das Vorhandensein einer präoperativen Resthörigkeit (p=0.033), nicht jedoch das Alter bei Implantation (p=0.89) korrelierten mit der p.o. Wortschatzentwicklung. Nach 2 Jahren kommunizierten 26,7% weiterhin nur mittels Gebärden oder Gesten, 66,6% mittels Lautsprache und Gebärden, sowie 6,7% allein durch Lautsprache (Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Artikulation war bei allen Kindern eingeschränkt. Das mittlere p.o. Sprachverstehen im Mainzer bzw. Göttinger Sprachverständnistest bei 65 dB bzw. 80 dB betrug nach 24 Monaten 60% (SD 17,06) bzw. 67,27% (SD 19,02). Das Sprachverstehen in der Hörtherapie blieb deutlich eingeschränkt: 40% verstanden situationsbedingte 1- bis 2-Wort-Äußerungen, 25% verstanden einfache situationsbedingte Anweisungen oder Fragen, 30% verstanden allenfalls ihren eigenen Namen. Nur wenige Kinder (n=5) erreichten in den ersten 12-24 Monaten einen Sprachentwicklungsstand, der dem CI-Alter entsprach. Alle Kinder besuchten eine Förderschule für Hören- und Kommunikation (n=19) oder geistige Entwicklung (n=1). Im Schulunterricht (n=17) wurde ein Großteil (76,5%) von der Lehrperson mittels Lautsprache und Gebärden angesprochen, 17,7% nur über Gebärden und 5,9% mittels Lautsprache. Die meisten Kinder nutzten im Unterricht Lautsprache mit Gebärden zur Kommunikation (52,9%), in der Peergroup wurden Gebärden bevorzugt (58,8%) (Abbildung 1 [Abb. 1]). 88,2% der Lehrpersonen sahen subjektiv einen Profit des allgemeinen Hörvermögens durch das CI und 70,6% schätzten das Selbstbewusstsein ihrer Schüler als sehr gut ein.

Diskussion

Nur bei wenigen Kindern entsprach der Sprachentwicklungsstand dem Höralter mit CI. Dies betraf ausschließlich Kinder mit einer präoperativen Resthörigkeit. Auffällig ist die hohe Anzahl an Kindern mit unterdurchschnittlicher kognitiver Leistungsfähigkeit. Eine CI-Implantation kann jedoch das Lernen und die Kognition dieser Kinder positiv beeinflussen [4]. Die Art der Kommunikation hat einen großen Einfluss auf die sprachlichen Fähigkeiten. Liegt der Fokus auf der verbalen Kommunikation (+ Gebärden), erzielen Kinder bessere sprachliche Ergebnisse [5].

Fazit

Die CI-Versorgung von Kindern mit Migrationshintergrund in höherem Alter scheint v.a. die kommunikativen Fähigkeiten und das allgemeine Hörvermögen zu unterstützen. Eine alleinige verbale Kommunikation bleibt in dieser Patientengruppe die Ausnahme. Dies sollte v.a. in der präoperativen Beratung und Entscheidungsfindung der Eltern Berücksichtigung finden. Ein individuelles Diagnostik- und Therapiekonzept, das nicht nur sprachliche, sondern auch soziale, kognitive und kommunikative Fähigkeiten erfasst, ist für diese Personengruppe daher besonders wichtig.


Literatur

1.
Statistisches Bundesamt. Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2021 (Erstergebnisse). 2022 [Zugriff am 30.05.2022]. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/_publikationen-innen-migrationshintergrund.html External link
2.
Lesinski-Schiedat A, Lenarz T, Illg A. Diagnostik und Therapie von Schwerhörigkeit inkl. Cochlea-Implantat bei Migranten in Deutschland [Diagnosis and Therapy of Hearing Impairment and Cochlear Implant in Migrants in Germany]. Laryngorhinootologie. 2020 Apr;99(4):224-228. DOI: 10.1055/a-1071-1851 External link
3.
Ligny C. Ciardelli R, Simon P, Van Vlierberghe C, Vandevoorde A, Marquet T, Mansbach AL. How to manage immigrant children with cochlear implants? Our experience in Brussels, a multicultural city. J Hear Sci. 2018;8(2):84-5.
4.
Marschark M, Duchesne L, Pisoni D. Effects of Age at Cochlear Implantation on Learning and Cognition: A Critical Assessment. Am J Speech Lang Pathol. 2019 Aug;28(3):1318-34. DOI: 10.1044/2019_AJSLP-18-0160 External link
5.
Wie OB, Falkenberg ES, Tvete O, Tomblin B. Children with a cochlear implant: characteristics and determinants of speech recognition, speech-recognition growth rate, and speech production. Int J Audiol. 2007 May;46(5):232-43. DOI: 10.1080/14992020601182891 External link