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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Der Einfluss der genetischen Diagnose auf die Variabilität der Ergebnisse von Cochlea-Implantationen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Anke Tropitzsch - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Thore Schade-Mann - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Philipp Gamerdinger - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Erika Watzel - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Sabrina Taddeo - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • Barbara Vona - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Hubert Löwenheim - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland
  • author Martin Holderried - Universitätsklinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde, Tübingen, Deutschland; Zentralbereich Medizin, Struktur- Prozess- und Qualitätsmanagement, Universitätsklinikum Tübingen, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV29

doi: 10.3205/22dgpp40, urn:nbn:de:0183-22dgpp401

Published: September 26, 2022

© 2022 Tropitzsch et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Ursachen der großen Variabilität der postoperativen Hörergebnisse bei der Cochlea-Implantation sind weitgehend ungeklärt. Einige klinische Faktoren sind bekannt, erklären diese Variabilität der Ergebnisse aber unzureichend und beeinflussen diese nur zu circa 20%. Auch genetische Faktoren beeinflussen die Ergebnisse der Cochlea-Implantation. Eine aktuelle Hypothese besagt, dass genetische Diagnosen, die in erster Linie sensorische Komponenten der Cochlea betreffen, gute Ergebnisse einer Cochlea Implantat Versorgung erwarten lassen, da sie vermutlich nur eine begrenzte Bedeutung für die Funktion des Cochlea Implantats haben. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass genetische Mutationen, die neuronale Komponenten betreffen, zu einem eingeschränkten Ergebnis führen können. Dieser Zusammenhang wird auch als die „Spiralganglion-Hypothese“ bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit haben wir die Interpretation von CI-Ergebnissen vor dem Hintergrund bestätigter genetischer Diagnosen untersucht.

Material und Methoden: Für diese Studie wurde eine Kohorte von CI-Trägern (n=123 implantierte Ohren; n=76 Probanden) mit einer bestätigten genetischen Ätiologie der Schwerhörigkeit gemäß der Richtlinien des American College of Medical Genetics (ACMG)/Association for Molecular Pathology (AMP) umfassend bezüglich ihres postoperativen audiologischen Ergebnisses untersucht.

Ergebnisse: Die genetische Diagnose der 76 Probanden umfasste 35 Gene und 61 relevante Varianten. Die sechs am häufigsten betroffenen Gene waren GJB2 (21%), TMPRSS3 (7%), MYO15A (7%), SLC26A4 (5%) sowie LOXHD1 und USH2A (jeweils 4%; n=5). Mutationen in Genen, die im Spiralganglion exprimiert werden, erwiesen sich als signifikanter Faktor, der die Ergebnisse der Cochlea-Implantation negativer beeinflusste als alle klinischen Parameter. Cochlea-Implantat-Träger mit pathogenen Varianten, die die sensorischen Strukturen betrafen, erreichten im Median 70% Einsilberverstehen (Freiburger Sprachtest in Ruhe bei 65 dB Schalldruckpegel).

Diskussion: Die Analyse des Zusammenhangs zwischen den molekulargenetischen Diagnosen einer hereditären Ätiologie der Schwerhörigkeit und den Ergebnissen der Cochlea-Implantation ergab signifikante Ergebnisse. Unterdurchschnittliches Sprachverstehen wurden bei genetischen Mutationen beobachtet, die die neuralen Komponenten der Cochlea betreffen. Dies unterstützt die „Spiralganglion-Hypothese“.

Fazit: Die genetische Diagnose kann zur Abschätzung des postoperativen Hörergebnisses und damit zur präoperativen Beratung der Patienten beitragen.


Text

Hintergrund

Die Variabilität der Ergebnisse bei Cochlea-Implantationen ist weitgehend ungeklärt. Bekannte klinische Faktoren erklären die Variabilität nicht hinreichend und nur zu etwa 20%. Auch genetische Faktoren beeinflussen die Ergebnisse der Cochlea-Implantation. Die klinische und genetische Heterogenität der erblich bedingten Schwerhörigkeit erschwert jedoch die präoperative Vorhersage des Ergebnisses einer Cochlea-Implantation und umgekehrt die Interpretation der postoperativen Ergebnisse in Bezug auf einen bestätigten genetischen Hintergrund. Genetischen Faktoren, die in erster Linie sensorische Bereiche der Cochlea (Corti’sches Organ, Stria vascularis) betreffen, lassen günstige Ergebnisse erwarten, da sie vermutlich nur eine begrenzte Bedeutung für die Funktion des Cochlea-Implantats haben. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass genetische Mutationen, die neuronale Bereiche der Cochlea (Spiralganglion) betreffen zu einem eingeschränkten postoperativen Hör-Ergebnis führen können. Dieser Zusammenhang wird auch als die „Spiralganglion-Hypothese“ bezeichnet [1]). In der vorliegenden Arbeit haben wir die Interpretation von CI-Ergebnissen vor dem Hintergrund bestätigter genetischer Diagnosen in einer großen Kohorte von Cochlea-Implantat-Trägern untersucht.

Material und Methoden

Die Studie umfasste eine Kohorte von Cochlea-Implantat-Trägern (n=123 implantierte Ohren; n=76 Probanden) mit einer definitiven genetischen Ätiologie der Schwerhörigkeit. Die genetische Diagnose erfolgte gemäß den Richtlinien des „American College of Medical Genetics (ACMG)/ Association for Molecular Pathology (AMP)“ [2] und den für Schwerhörigkeit spezifischen Kriterien des „Hearing Loss Variant Curation Expert Panel“ [3]. Die postoperativen audiologischen Ergebnisse wurden nach dem Einsilberverstehen im Freiburger Sprachtest bei 65 dB Sprachpegel in Ruhe verglichen [4].

Ergebnisse

Die genetische Diagnose der 76 Probanden in der untersuchten Kohorte umfasste 35 Gene und 61 verschiedene klinisch relevante (pathogene, wahrscheinlich pathogene) Varianten. Bei den implantierten Ohren (n=123) waren die sechs am häufigsten betroffenen Gene GJB2 (21%), TMPRSS3 (7%), MYO15A (7%), SLC26A4 (5%) sowie LOXHD1 und USH2A (jeweils 4%; n=5). Mutationen in Genen, die im Spiralganglion exprimiert werden, erwiesen sich als signifikanter Faktor, der die Ergebnisse der Cochlea-Implantation negativer beeinflusste als alle klinischen Parameter. Cochlea-Implantat-Träger mit pathogenen Varianten, die die nicht-neuralen Strukturen betrafen, erreichten im Median mit 70% Einsilberverständnis (Freiburger Sprachaudiometrie in Ruhe bei 65 dB Schalldruckpegel).

Diskussion

Zusammenfassend führt eine definierte genetische Ätiologie der Schwerhörigkeit sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu Ergebnissen einer Cochlea-Implantation, die auf oder über dem durchschnittlichen Niveau bei gemischter Ätiologie der Schwerhörigkeit liegen. Dennoch ist die Aussagekraft einer allgemeinen Prognose, die auf der Bewertung genetischer Faktoren als Beitrag zu den Ergebnissen einer Cochlea-Implantation beruht, begrenzt. Wie in dieser Studie dargestellt, reichen die Ergebnisse einer Cochlea-Implantation mit einem genetisch definierten Hintergrund von deutlich unterdurchschnittlichen bis zu deutlich überdurchschnittlichen Werten (Median von 0–97,5% Einsilberverstehen bei 65 dB). Diese große Bandbreite der Ergebnisse ist auf den komplexen und heterogenen Hintergrund der erblich bedingten Schwerhörigkeit sowohl auf molekulargenetischer als auch auf klinischer Ebene zurückzuführen. Um die Frage dieser Variabilität zu klären und ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen spezifischen genetischen Ursachen und den Ergebnissen der Cochlea-Implantation zu erlangen, muss die Analyse auf einzelne betroffene Gene und Varianten ausgedehnt werden.

Fazit/Schlussfolgerungen

Die Analyse des Zusammenhangs zwischen den molekulargenetischen Diagnosen einer hereditären Ätiologie der Schwerhörigkeit und den Ergebnissen der Cochlea-Implantation ergab signifikante Ergebnisse. Unterdurchschnittliches Sprachverstehen wurde bei genetischen Mutationen beobachtet, die die neuralen Komponenten der Cochlea betreffen. Diese Befunde unterstützen die „Spiralganglion-Hypothese“.


Literatur

1.
Eppsteiner RW, Shearer AE, Hildebrand MS, Deluca AP, Ji H, Dunn CC, Black-Ziegelbein EA, Casavant TL, Braun TA, Scheetz TE, Scherer SE, Hansen MR, Gantz BJ, Smith RJ. Prediction of cochlear implant performance by genetic mutation: the spiral ganglion hypothesis. Hear Res. 2012 Oct;292(1-2):51-8.
2.
Richards S, Aziz N, Bale S, Bick D, Das S, Gastier-Foster J, Grody WW, Hegde M, Lyon E, Spector E, Voelkerding K, Rehm HL; ACMG Laboratory Quality Assurance Committee. Standards and guidelines for the interpretation of sequence variants: a joint consensus recommendation of the American College of Medical Genetics and Genomics and the Association for Molecular Pathology. Genet Med. 2015 May;17(5):405-24.
3.
Oza AM, DiStefano MT, Hemphill SE, Cushman BJ, Grant AR, Siegert RK, Shen J, Chapin A, Boczek NJ, Schimmenti LA, Murry JB, Hasadsri L, Nara K, Kenna M, Booth KT, Azaiez H, Griffith A, Avraham KB, Kremer H, Rehm HL, Amr SS, Abou Tayoun AN; ClinGen Hearing Loss Clinical Domain Working Group. Expert specification of the ACMG/AMP variant interpretation guidelines for genetic hearing loss. Hum Mutat. 2018 Nov;39(11):1593-1613.
4.
Hahlbrock KH. Sprachaudiometrie: Grundlagen und Praktische Anwendung einer Sprachaudiometrie. Stuttgart: Thieme; 1957.