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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Die Misophonie: Wenn das Hören wütend macht

Vortrag

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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV27

doi: 10.3205/22dgpp38, urn:nbn:de:0183-22dgpp383

Published: September 26, 2022

© 2022 Schwemmle et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Misophonie ist eine selektive Geräuschempfindlichkeit mit audiologischer, psychiatrischer, kognitiv-verhaltensspezifischer und neurologischer Assoziation. Der Beginn kann im Kindesalter bis zum Erwachsenenalter sein.

Unmittelbar nach sog. Triggergeräuschen reagieren die Betroffenen reflexartig mit Wut, Irritation u. a. Es besteht keine eindeutige physikalische Eigenschaft des Stimulus’. Auslöser sind meist „menschliche Körpergeräusche“ (Ess-/Atemgeräusche), aber auch z.B. Klicken mit dem Kugelschreiberknopf sowie Tiergeräusche/ Maschinengeräusche (z.B. Toilettenspülung), auch visuelle Trigger können Auslöser sein wie z.B. Bein schlenkern. Die Symptomatik kann sich von einem Triggergeräusch längerfristig auf weitere erweitern. Objektivierbare Veränderungen wie Herzfrequenzerhöhung, Blutdruckerhöhungen, Schweißausbrüche u.a. sind häufig nachweisbar.

Material und Methoden: Definitionskriterien wurden erstmals 2013 veröffentlicht; verschiedene validierte Fragebögen werden bisher zur Misophonieausprägung verwendet.

Ergebnisse: Die Ätiologie ist bisher nicht geklärt. Studien mit funktionellen Kopf-MRT-Untersuchungen zeigten neuronale Auffälligkeiten mit übermäßiger Aktivierung des anterioren Inselkortex (AIC) und benachbarter Regionen, die für die Emotionsverarbeitung/-regulation verantwortlich sind.

Diskussion: Bisher gibt es keine validierten Behandlungsmethoden. Einzelne Publikationen beschreiben kognitive Verhaltensinterventionen, Retrainingtherapien, psychiatrische Interventionen, technische Schallmaskierungssysteme/Schalldämpfungssysteme und Strategien aus dem physiotherapeutischen Bereich.

Fazit: Eine Misophonie wächst sich nicht aus. Hördiagnostik, Beratung, die interdisziplinäre psychiatrische Betreuung und verschiedene, individuelle Behandlungskonzepte sollten deshalb angeboten werden, auch weil Misophoniker häufig langfristig in ihrer sozialen und beruflichen Teilhabe eklatant beeinträchtigt sind.


Text

Hintergrund

Die Misophonie ist eine selektive Geräuschempfindlichkeit mit audiologischer, psychiatrischer, kognitiv-verhaltensspezifischer und neurologischer Assoziation. Bisher ist ungeklärt, ob sie eine eigenständige Krankheit ist oder als Ko-Symptom anderer Krankheiten, vor allem aus dem psychiatrischen Formenkreis, zu bewerten ist. Komorbiditäten wurden beschrieben für Tinnitus/Hyperakusis, Migräne, Störungen aus dem autistischen Formenkreis, posttraumatischen Störungen, Borderline-Störungen, bipolaren Störungen/Schizophrenien, Angst- und Zwangsstörungen, Essstörungen, Depressionen und Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen und Tourette-Syndrom.

Der Beginn kann im Kindesalter/Vorschulalter bis ins Erwachsenenalter sein, neuere Veröffentlichungen postulieren eine Erstmanifestation häufig um das 12. bis 14. Lebensjahr. Allgemein ist die Diagnosestellung meistens deutlich später als der Beginn der Symptome. Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein, die Studienlage ist allerdings inhomogen.

Symptome

Unmittelbar nach sogenannten Triggergeräuschen reagieren die Betroffenen reflexartig mit Wut, Aversion, Irritation und anderen, ausschließlich negativen Assoziationen. Die Misophoniker verspüren bei Wahrnehmung „ihrer“ Triggergeräusche außerdem objektivierbare Veränderungen wie Herzfrequenzerhöhung, Schweißausbrüche, Blutdruckerhöhungen und Atemnot.

Es besteht keine eindeutige physikalische Eigenschaft des Stimulus’. Stattdessen scheinen die individuelle Bedeutung, der soziale Kontext oder die Interpretation des Auslösers die Reaktion auf diese Geräusche zu beeinflussen. Die aversiv erlebten Geräusche werden bereits bei geringer Lautheit als überlaut, störend und bedrohlich empfunden, andere Geräusche mit vergleichbarem Frequenzspektrum verursachen keine Reaktionen. Auslöser sind meist „menschliche Körpergeräusche“ (Ess-, Schmatz-/Atemgeräusche), aber auch Geräusche, die von Menschen, aber nicht direkt vom menschlichen Körper erzeugt werden, wie z.B. Klicken mit dem Kugelschreiberknopf, mit Papier rascheln, Geräusche von Schuhabsätzen, außerdem Geräusche, die von (Haus-)Tieren produziert werden, sowie Maschinengeräusche (z.B. Toilettenspülung). Eine Triggerauslösung kann auch bestehen, wenn diese Trigger z. B. im Fernsehen wahrgenommen werden. Die Symptomatik kann sich von einem Triggergeräusch längerfristig auf weitere ausweiten (bis zu 70%).

Auch visuelle Trigger können ein Auslöser sein wie z. B. Bein schlenkern oder der Anblick von sich bewegenden Lippen. Objektivierbare Veränderungen wie Herzfrequenzerhöhung, Schweißausbrüche u. a. sind häufig nachweisbar.

Neuronale Korrelate

Studien mit funktionellen Kopf-MRT-Untersuchungen zeigten neuronale Auffälligkeiten mit übermäßiger Aktivierung des anterioren Inselkortex (AIC) und benachbarter Regionen, die für die Emotionsverarbeitung/-regulation verantwortlich sind. EEG-Studien zeigten eine geringere N1-Aktivität hinsichtlich ereigniskorrelierter Potenziale bei Misophoniebetroffenen, das möglicherweise auf ein neurobiologisches Defizit in der auditiven Verarbeitung hinweist. Letztendlich gibt es aktuell jedoch kein eindeutiges neurobiologisches Korrelat, dass mit einer Misophonie vergesellschaftet ist. Eine abnormale neuronale Aktivität mit nachfolgend negativassoziierter Bewertung des Organismus erscheint jedoch wahrscheinlich.

Diagnostik

Die Diagnose ist eine klinische Diagnose, Hilfsmittel sind Checklisten, Fragebogenverfahren und -Interviews. Die Definitionskriterien wurden erstmals 2013 veröffentlicht; verschiedene validierte Fragebögen werden bisher zur Misophonieausprägung verwendet.

1.
Misophonie-Selbstbewertungsfragebogen (Misophonia Assessment Questionnaire, MAQ):21 Fragen, Punktescore 0–3/ Frage, Summenscore zur Beurteilung nicht/kaum bis sehr deutlich ausgeprägt
2.
Misophonie-Fragebogen (Misophonia Questionnaire, MQ): Im englischsprachigen Sprachraum verbreitet, Kombination aus Symptombeurteilung/Emotion/Verhalten, 17 Items
3.
Misophonie Aktivierungsskala (Misophonia Activation Scale, MAS-1): Von Fitzmaurice auf der Internetplattform misophonia-uk.org publiziert Stufe 0–10, Einordnung der eigenen Reaktionsschwere auf Trigger
4.
Amsterdam Misophonieskala (Amsterdam-Misophonia-Scale, A-MISOS), Adaption Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) für Zwangsstörungen. Beurteilung der Misophoniebeeinflussung zeitlich, Beeinflussung von Lebensqualität und Arbeitsleistung. Häufig verwendet, ökonomisch rasch durchführbar.

Begleitdiagnostik sind subjektive und objektive Verfahren zum Ausschluss einer peripheren oder zentralen Hörstörung. Eine psychiatrische Mitbeurteilung erscheint sinnvoll, auch im Hinblick auf mögliche Ko-Morbiditäten.

Diskussion

Bisher gibt es keine validierten Behandlungsmethoden. Obsolet sind Konfrontationstherapien wie sie bei Phobien verwendet werden, weil die emotionale Triggerung davon unbeeindruckt bleibt und sie sich in vielen Fällen sogar verstärken kann. Die Therapie basiert auf verschiedenen Strategien.

1.
Modulation des Alltags mit Vermeidung/Reduktion der Triggerumgebung, Möglichkeit, sich aus der Triggerumgebung zu entfernen
2.
Kognitive Verhaltensinterventionen, Retrainingtherapien, Gegenkonditionierung, Training emotionale Kontrolle u.a.
3.
Mechanische Triggerdämpfung durch technische Schallmaskierungssysteme/Schalldämpfungssysteme, z.B. mit Kopfhörern
4.
Strategien aus dem physiotherapeutischen Bereich
5.
Bei psychiatrischen Erkrankungen unterstützende Medikation, um auch das Ausmaß der Misophoniereaktion reduzieren. Medikationen speziell für die Misophonie bisher nicht etabliert

Fazit

Eine Misophonie wächst sich nicht aus, tendenziell erweitern sich die Triggerreaktionen durch Zunahme von Triggern. Ein Symptombeginn ist prinzipiell in jedem Lebensalter möglich, gehäuft ist der Beginn in der Pubertät.

Hördiagnostik, Beratung und verschiedene Behandlungskonzepte sollten unabhängig von ihrem „wissenschaftlichen Wert“ individuell und frühzeitig initiiert werden, weil Misophoniker häufig langfristig in ihrer sozialen und beruflichen Teilhabe nicht nur beeinträchtigt sind, sondern in eine absolute Isolation geraten können.