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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Weltweiter Status des Neugeborenen-Hörscreenings – was lernen wir daraus?

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Münster, Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland
  • author Harald A. Euler - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Münster, Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland
  • author Shelly Chadha - Blindness Deafness Prevention, Disability and Rehabilitation Unit, Department for Management of Noncommunicable Diseases, Disability, Violence and Injury Prevention, World Health Organization, Geneva, Schweiz
  • author Philipp Mathmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Münster, Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland
  • author Karl R. White - National Center for Hearing Assessment and Management, Utah State University, Logan, Vereinigte Staaten

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV24

doi: 10.3205/22dgpp33, urn:nbn:de:0183-22dgpp330

Published: September 26, 2022

© 2022 Neumann et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Übersicht zum globalen Status des Neugeborenen- und Säuglings-Hörscreenings (NIHS) und seiner Wirksamkeit bei der Früherkennung und Behandlung permanenter Hörstörungen im Kindesalter.

Material und Methoden: Personen aus 196 Ländern/Territorien (nachfolgend Länder genannt), die potenziell mit dem NIHS zu tun haben, erhielten einen Fragebogen zu Umfang, Strategien und Ergebnissen der länderspezifischen NIHS-Programme.

Ergebnisse: Ergebnisse: Fragebögen aus 158 Ländern wurden zurückgesandt. 38% der Weltbevölkerung hatte kein oder nur ein Minimalscreening, 33% berichteten von einem Screening von >85% der Säuglinge (universelles Neugeborenen-Hörscreening, UNHS). Der durchschnittliche Lebensstandard in Ländern mit UNHS war zehnmal höher als in Ländern mit einer NIHS-Abdeckung von <10%. Das Durchschnittsalter bei der Diagnose permanenter Hörstörungen betrug 4,6 Monate für gescreente Kinder und 34,9 Monate für nicht gescreente Kinder. Das Durchschnittsalter zu Beginn der Intervention betrug 6,9 Monate für gescreente und 35,2 Monate für nicht gescreente Kinder. Zu Screening-Methoden gehörten otoakustische Emissionen (OAE) in 57% der Länder, automated auditory brainstem response (AABR) in 11% und zweistufige OAE-AABR-Verfahren in 30%. Im Durchschnitt bestanden 4,5% der Säuglinge das Screening nicht; 17,2% dieser Kinder galten als „lost to follow-up“. Die in NIHS-Programmen ermittelte Prävalenz permanenter frühkindlicher Hörstörungen lag zwischen 0,3–15,0 pro 1.000 Säuglinge (Median 1,70).

Diskussion: Die Screening-Programme unterschieden sich erheblich hinsichtlich Qualität, Datenerfassung und Zugänglichkeit von Services für Kinder mit Hörstörung. Die Ergebnisse der Umfrage werden in den Kontext mehrerer neuerer WHO-Publikationen gesetzt, insbesondere des World Report on Hearing 2021, der die Fortschritte bei der Umsetzung von NHS-Programmen in den Mitgliedstaaten als einen der drei wichtigsten Indikatoren für den weltweiten Fortschritt in der Hörgesundheit definiert.

Fazit: Neugeborene mit Hörstörungen profitieren in Ländern mit funktionierenden NIHS-Programmen von einer Früherkennung, aber es bestehen große Ungleichheiten.


Text

Hintergrund

Unerkannte oder unbehandelte permanente kindliche Hörstörungen (PKHS) beeinträchtigen die Entwicklung betroffener Kinder erheblich [1]. Es gibt zahlreiche kurz- und langfristige Belege dafür, dass ein Neugeborenen- oder Säuglingshörscreening (NSHS) eine kosteneffiziente Methode zur Senkung des Diagnose- und Interventionsalters und zur Verbesserung der sprachlichen, kognitiven, sozio-emotionalen und akademischen Leistungen von Kindern mit PKHS ist [2]. Im März 2021 publiziert die WHO den ersten World Report on Hearing [3]. Dieser fasst epidemiologische und finanzielle Daten über Hörstörungen global zusammen und schlägt kosteneffiziente Lösungen vor, um eine “integrated people-centered ear and hearing care” (IPC-EHC) zu erreichen. Einer der drei im Bericht vorgeschlagenen Indikatoren zur Überwachung von Fortschritten in der Hörfürsorge ist die Abdeckung durch Neugeborenen-Hörscreenings, definiert als Anteil der Säuglinge mit Hörstörung in einer definierten Population, die innerhalb der ersten 6 Lebensmonate geeignete Maßnahmen zu deren Behebung erhalten haben [3]. Die hier vorgestellte weltweite Umfrage zum Stand des NSHS ging in den World Report on Hearing ein als epidemiologische Datenerhebung, die geeignet ist, diesen Indikator länderspezifisch zu verfolgen [4], [5].

Material und Methoden

Von Gesundheitsministerien, mit NSHS befassten Nichtregierungsorganisationen und Fachleuten aus 196 Ländern/Territorien wurden fragebogenbasiert Informationen zu Umfang, Strategien und Ergebnissen der länderspezifischen NSHS-Programme zwischen 2013 und 2019 erhoben.

Ergebnisse

Fragebögen aus 158 Ländern, die 95% der Weltbevölkerung repräsentieren, wurden zurückgesandt. Der Erhebung zufolge leben 33% der Weltbevölkerung in Ländern mit hoher NSHS-Abdeckung (≥85% der Säuglinge erhielten ein NSHS) und 38% in Ländern mit einer niedrigen NSHS-Abdeckung von <1%. Die berichtete mittlere Prävalenz von PKHS, die durch NSHS-Programme identifiziert wurde, liegt bei 1–7 pro 1.000 Säuglinge. Bei gescreenten Säuglingen mit PKHS wird die Diagnose im Durchschnittsalter von 4,6 Monaten gestellt, und die Behandlung beginnt im Durchschnittsalter von 6,7 Monaten, wenn also die auditorischen Hirnstrukturen noch gut behandelbar sind. Letzteres ist bei nicht gescreenten Säuglingen nicht der Fall, deren Durchschnittsalter bei Diagnose und Behandlung 34,9 bzw. 36,7 Monate beträgt. Die Durchfallquote der Screenings (durchschnittlich 4–5%) ist in Ländern mit hoher NSHS-Abdeckung niedriger als in solchen mit hoher. Besorgniserregend sind die berichteten 17,2% Kinder, die das Screening nicht bestanden, aber nicht weiterverfolgt wurden. Diese Lost-to-follow-up-Raten sind in Ländern mit hoher NSHS-Abdeckung um 7% niedriger als in solchen mit geringer. Länder mit hoher NSHS-Abdeckung haben einen zehnmal höheren durchschnittlichen Lebensstandard, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), als Länder mit einer Screening-Abdeckung von <10%. Das BIP korreliert negativ mit der Fail-Rate, der PCHL-Prävalenz und dem durchschnittlichen Alter bei Diagnose und Intervention bei Säuglingen mit PCHL. Die gesetzliche Verankerung von Screenings korreliert mit ihrem Erfassungsgrad (rho=0-51).

Tabelle 1 [Tab. 1]

Diskussion

Der World Report on Hearing [3] fordert als eines der Ziele, die durch die Ausweitung von IPC-EHC-Services erreicht werden sollen, eine Erhöhung der effektiven NSHS-Abdeckung um 20% bis 2030. Um NSHS-Programme weiter auszubauen und zu verbessern, sollten die folgenden Initiativen in Betracht gezogen werden:

1.
Länder mit einer hohen NSHS-Abdeckung sollten für einen gleichberechtigten Zugang ihrer Bevölkerung sorgen und Länder mit minimalen oder fehlenden NSHS-Programmen unterstützen.
2.
Regierungen sollten NSHS-Programme gesetzlich vorschreiben.
3.
Um Informationen zur Screening-Qualität des Screenings zu erhalten und die Babys nachzuverfolgen, die nicht am Screening teilgenommen oder es nicht bestanden haben, sollten Datenerfassungs- und Tracking-Systeme simultan mit NSHS-Programmen implementiert werden.
4.
Kreative und erschwingliche Lösungen für einen breiten Zugang zu Hörtechnologie müssen angestrebt werden, was z.B. einen staatlichen Großeinkauf von Hörgeräten oder -Implantaten beinhalten könnte.

Fazit

Ein NSHS mit nachfolgender Frühintervention ist hoch wirksam, kosteneffizient und eine hervorragende Investition von Ressourcen. Unsere Studie hat erstmals auf globalem Level bestätigt, dass es Kindern nützt, dass aber weiterhin globale Unterschiede bestehen. Um allen Kindern den höchstmöglichen Gesundheitsstandard zu ermöglichen, ist die Bereitstellung von NSHS als Teil der nationalen Pläne für eine allgemeine Gesundheitsversorgung eine Frage von Gerechtigkeit und Gleichheit.


Literatur

1.
World Health Organization. Newborn and infant hearing screening: current issues and guiding principles for action. Geneva: World Health Organization; 2010.
2.
Chiou ST, Lung HL, Chen LS, et al. Economic evaluation of long-term impacts of universal newborn hearing screening. Int J Audiol. 2017; 56: 46-52.
3.
World Health Organization. World Report on Hearing. Geneva: World Health Organization; 2021 [last access 2022 Jul 24]. Available from: https://www.who.int/publications/i/item/world-report-on-hearing External link
4.
Neumann K, Euler HA, Chadha S, et al. A survey on the global status of newborn and infant hearing screening. J Early Hear Detect Intervent. 2020;5(2):63-84. DOI: 10.26077/a221-cc28 External link
5.
Neumann K, Mathmann P, Chadha S, et al. Newborn hearing screening benefits children, but global disparities persist. J Clin Med. 2022;11(1):271. DOI: 10.3390/jcm11010271. External link